Ansprache von Stadtverordnetenvorsteher Torsten von Haaren zum Gedenken an das Pogrom am 9. November 1938

- Es gilt das gesprochene Wort –

Sehr geehrter Herr Rabbiner Teitelbaum,
sehr geehrte Damen und Herren,

gern hätte ich Sie heute in möglichst großer Zahl persönlich an diesem Ort begrüßt. Doch leider macht die aktuelle Situation auch diese Veranstaltung nicht möglich. Aber auf keinen Fall wollten wir diesen Tag des Gedenkens ausfallen lassen, und so begrüße ich all jene, die uns live oder später zeitversetzt zuhören, sehr herzlich und ganz besonders Herrn Rabbiner Teitelbaum, der das Totengebet, das Kaddisch, sprechen wird.

Sehr geehrte Damen und Herren,

es sind die Ereignisse der zurückliegenden Tage und Monate vom Anschlag auf die Synagoge in Halle bis zu den jüngsten Ereignissen in Wien, die uns verdeutlichen, wie bedeutsam die Erinnerung an die Verbrechen der Vergangenheit sind.

Diese und weitere Taten, seien sie von islamistischen oder rechtsextremistischen Terroristen begangen worden, wurzeln in dem selben Übel: Rassismus und Antisemitismus, gepaart mit der Ablehnung unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung.

Wohin ihre Menschenfeindlichkeit uns führen kann, haben wir auch in Bremerhaven beziehungsweise dem damaligen Wesermünde bereits einmal erlebt.

Die Opfer nationalsozialistischer Gewalt, die wir heute an diesem Ort betrauern, sind Zeugen des Versagens der Zivilgesellschaft und der demokratischen Institutionen lange vor 1933.

Sehr geehrte Damen und Herren,

hinter mir auf der Plakatwand sehen Sie eines der wenigen Fotos der Synagoge, die sich hier, ein Stück weiter in der Schulstraße, befand, bis sie in der Pogromnacht vom 9. November 1938 in Brand gesetzt wurde.

Die Geschehnisse in der Pogromnacht in Bremerhaven unterschieden sich nicht grundsätzlich von denen in vielen anderen Regionen und Orten des Deutschen Reiches.

Am 9. November 1938 fanden am Nachmittag und Abend einige Feierlichkeiten der NSDAP, der SA, der Hitlerjugend und der NS-Frauenschaft u.a. in den Spiegelsälen in Geestemünde, im Stadttheater Bremerhaven und in der Waldschenke am Bürgerpark statt; eine weitere Veranstaltung wurde bei Seebeck am Markt in Lehe abgehalten.

Anlass war auch in Bremerhaven der von Hitler bei seiner Machtübernahme als Gedenk- und Feiertag erklärte 9. November, an dem jährlich seiner getöteten Mitstreiter beim Marsch auf die Feldherrnhalle in München am 9. November 1923, dem sogenannten Hitler-Putsch, gedacht werden sollte.

Im Anschluss an die Veranstaltungen begaben sich die führenden Funktionäre der verschiedenen Parteigliederungen zu einem Kameradschaftsabend in das Hanseaten-Café in der Bürgermeister-Smidt-Straße.

Neben dem Gauleiter von Ost-Hannover Otto Telschow, der auch für den Bereich Geestemünde und Bremerhaven zuständig war, befanden sich auch der Leiter des NSDAP-Kreises Wesermünde Hugo Kühn und der SA-Standartenführer Wesermünde (Bremerhaven) Carl-Theodor Löber unter den Anwesenden.

Die einfachen SA-Leute hingegen trafen sich in ihrem Stammlokal „Siedentopp“ in der Hafenstraße, während sich die SA-Männer aus Geestemünde in dem Lokal “Tonne“, Ecke Schillerstraße/An der Mühle, zusammenfanden.

Am späteren Abend erhielt Kreisleiter Kühn im Hanseaten-Café einen Telefonanruf. Es ist nicht überliefert, wer ihn angerufen hat. Vermutlich aber war es die Gauleitung, die Kühn über die in München von der Parteileitung initiierte Planung zur Zerstörung der Synagogen und jüdischen Geschäften informierte. Die Befehle wurden von Kühn und Löber sofort an die SA-Gliederungen weitergeleitet. Die lokalen SA-Führer informierten ihre Leute und sorgten dafür, dass sie sich an den Sammelpunkten im Hanseaten-Café wie auch in den Lokalen „Siedentopp“ und „Tonne“ einfanden.

Es wurden verschiedene Einsatztrupps gebildet, die offenbar mit gezielten Weisungen versehen wurden und sich sogleich auf den Weg machten.

Die SA-Truppen zerstörten das Manufakturgeschäft von Julius Katzenstein in der Lange Straße 134, das Orienthaus von Kurt Davidsohn in der Bürgermeister-Smidt-Straße 108, das Eisenwarengeschäft von Helene Brodersen in der Hafenstraße 93 sowie die Wohn- und Geschäftsräume von Karl Ahronheim in der Ulmenstraße 3, von Henry Liepmann in der Georgstraße 6, von dem Arzt Dr. Bernhard Goldmann, An der Mühle 1, von dem Viehhändler Siegfried Seligmann in der Schiffdorfer Chaussee 11 sowie von Kurt Wulff in der Sedanstraße 6.

Ebenfalls von Verwüstungen betroffen waren die beiden Kaufhäuser von Julius Schocken in der Bürgermeister-Smidt-Straße und in der Georgstraße, deren Schaufenster zerschlagen und Lebensmittel und Textilien vernichtet wurden.[1]

Die Ausschreitungen machten nicht halt vor direkten physischen Gewalttätigkeiten gegen einzelne Menschen. Betroffen waren u.a. Kurt Davidsohn, Henry Liepmann und Dagobert Kahn, die von den SA-Trupps misshandelt wurden. Dagobert Kahn brachte man stark blutend auf die Polizeiwache in der Schifferstraße.[2]

Die Synagoge in der Schulstraße wurde in Brand gesteckt. Einer der beteiligten SA-Männer hatte zu diesem Zweck Benzinkanister aus dem Geschäft seines Vaters herangeschafft.

Zahlreiche Schaulustige versammelten sich in der Schulstraße und sahen dabei zu, wie das Gotteshaus vollständig ausbrannte.

Die Feuerwehr griff nicht ein, sondern konzentrierte sich darauf, die angrenzenden Gebäude zu schützen.

Unmittelbar lebensbedrohlich wurde es für Familie Goldner, die ihre Wohnung auf dem Grundstück der Synagoge hatte. Sally Goldner war seit 1934 Lehrer, Kantor und Prediger der Jüdischen Gemeinde gewesen. Er und seine Frau Wilhelmine sowie die beiden Kinder Ludwig und Judith verloren in dieser Nacht ihr gesamtes Hab und Gut. Sally Goldner wurde verhaftet.

Drei Wochen lang wurde er unter Misshandlungen verhört und musste sich danach regelmäßig bei der Gestapo melden. Notdürftig kam die Familie in dem Haus des Vorstandsmitgliedes der Gemeinde Siegfried Seligmann in der Straße Vierhöfen 11 unter. [3]

Welche infamen Instinkte nach dem Geschehen eine Rolle spielten konnten, ist durch den Brief eines SA-Anwärters überliefert, der in einem Brief an einen Bekannten in Berlin am 10. November 1938 schrieb:

„Die Aktion hatte letzte Nacht ganz wunderbar geklappt, ich habe mich so richtig mal wieder austoben können und meine Kräfte spielen lassen, meine Brandlegung war prima, es ist von dem Synagogeninventar auch nichts übergeblieben.“

Sehr geehrte Damen und Herren,

niemand hat das Wüten der SA verhindert.

Niemand schützte die Opfer.

In dieser Erkenntnis steckt die Mahnung an die nachfolgenden Generationen.

Wir leben in einer pluralistischen, also vielfältigen Gesellschaft. Meinungsvielfalt und Meinungsverschiedenheiten gehören zusammen.

Die Freiheit der Meinung, der Religion, der Kunst und der Forschung sind verbriefte Grundrechte.

In einer demokratischen Gesellschaft werden Meinungsverschiedenheiten auf der Grundlage gegenseitiger Achtung und Anerkennung ausgetragen.

Wo auch immer die Anerkennung des Anderen versagt wird, ist die Freiheit in Gefahr.

Und so ist es an mir, Sie als Bremerhavenerinnen und Bremerhaven dazu aufzurufen, die Errungenschaften der Freiheit zu wahren und zu schützen.

Lassen Sie uns unabhängig von politischem, religiösen oder anderem Zwist zusammenstehen und zusammenhalten.

Schützen wir uns gemeinsam vor Fundamentalismus und Extremismus.

Schützen wir gemeinsam die Freiheit des Anderen – bewahren wir die unter so vielen Opfern erkämpften Errungenschaften der Freiheit und der Demokratie.

Ich danke Ihnen.

[1] Siehe den Artikel „Auch in den Unterweserorten“, in: Nordwestdeutsche Zeitung vom 10.11.1938, in dem über die Pogromnacht berichtet wird. Vgl. auch den Bericht über den Synagogenprozess „Die Angeklagten sagen aus“, in: Nordsee-Zeitung“ vom 23. Februar 1948.

[2] Dazu ausführlich Wippermann, Jüdisches Leben im Raum Bremerhaven, S. 170 f. und Scheper, Zur Pogromnacht vor 50 Jahren, S. 23 f.

[3] Siehe zum Schicksal der Familie Goldner die Ansprache(PDF 89,6 KB) von Stadtrat Michael Frost anlässlich des Jahrestages der Pogromnacht in Bremerhaven am 9. November 2017. Seit 2018 befinden sich vier Stolpersteine in Erinnerung an die Familie Goldner in der Schulstraße vor der ehemaligen Hausnummer 5. Siehe die Liste der Stolpersteine in Bremerhaven.

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