Archivpädagogische Materialien I: Die Machtergreifung durch die Nationalsozialisten im Jahre 1933

Joachim Kussin, der von 1984-1997 als Fachberater für Archivpädagogik (LFI) die Geschichte Bremerhavens Lehrkräften sowie Schülerinnen und Schülern zu vermitteln suchte, möchte Teile seiner umfangreichen Sammlung an archivpädagogischen Handreichungen im Stadtarchiv digital überarbeitet zur Verfügung stellen. Derzeit entstehen Zusammenstellungen von Quellen zur Machtergreifung 1933 sowie zum Ersten Weltkrieg 1914-1918. Weiteres Material ist im Stadtarchiv auf Anfrage benutzbar. Die vorliegende Zusammenstellung ist das Ergebnis eines studentischen Projektes in Zusammenarbeit von Joachim Kussin mit Torben Fedderwitz (Universität Bremen).

Thema I: Die Machtergreifung durch die Nationalsozialisten im Jahre 1933

Diese erste Materialzusammenstellung nimmt sich den Fragen der Machtergreifung 1933 am Beispiel Bremerhavens an. Wie kam Adolf Hitler 1933 an die Macht? Wie gelang es, die Weimarer Demokratie in eine Diktatur umzuwandeln, in der nicht Freiheit und Menschenrechte, sondern Gehorsam, Unterordnung, Fanatismus, Rassenhass und Kriegstreiberei die entscheidenden Rollen spielten? Eine umfassende Sammlung von Ausschnitten aus Bremerhavener Zeitungen zu diesem Themenkomplex, die den Zeitraum von Januar 1933 bis August 1934 abdeckt, ist im Stadtarchiv in Kopie einzusehen.

Programm der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP)

Nach der Ernennung zum Reichskanzler durch Reichspräsident Paul von Hindenburg am 30. Januar 1933 begann Adolf Hitler unverzüglich mit der Umsetzung seines Programmes, welches er am 3. Februar vor den Spitzen der Reichswehr erläuterte. Zentrale Ziele im Inneren seien demnach die Ausrottung des Marxismus, die Stärkung der Wehrmacht durch Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht, der Kampf gegen den Pazifismus und die jüdischen Bevölkerungsteile unter gleichzeitiger Ausschaltung der Demokratie. Zentrale Eckpfeiler des außenpolitischen Programms waren die aggressive Expansion nach Osten sowie eine rücksichtslose Germanisierung dieser als neuen „Lebensraum“ und Absatzmarkt zu erschließenden Gebiete.

Festigung der Macht

Um den „Makel“ der Ernennung zu beseitigen, sah Hitler Neuwahlen für den 5. März 1933 vor, insbesondere mit dem Ziel, durch eine parlamentarische Mehrheit den Einfluss konservativer Kreise zu beseitigen. Flankiert wurde dieses Begehren von der Notverordnung zur Einschränkung der Pressefreiheit  vom 4. Februar, die vor allem die Arbeiterpresse angriff. Der Reichstagsbrand in der Nacht vom 27. auf den 28. Februar wurde von den Nationalsozialisten zum Anlass genommen, durch weitere Notverordnungen die Grundrechte aufzuheben und ihre politischen Gegner in der KPD und SPD zu verfolgen. Trotz dieser Maßnahmen erreichte die NSDAP keine absolute Mehrheit, sondern „nur“ 43,8% - in mehrheitlich katholischen Gebieten blieb die Zentrumspartei eine starke Kraft, die SPD war zumindest in einigen Regionen wie Wesermünde oder Cuxhaven noch ein Faktor. Hitler bildete daher zunächst formell eine Koalitionsregierung mit der Deutschnationalen Partei. Was folgte, war die sogenannte „Gleichschaltung“, im Zuge derer die Wahlergebnisse auf alle Länder und Kommunen übertragen und anstehende Wahlen wie die zur Bremischen Bürgerschaft annulliert wurden.

Eine „neue Zeit“ auch in Wesermünde und Bremerhaven

Die wesentlichen Entwicklungslinien der „Machtergreifung“ verliefen in Wesermünde und Bremerhaven parallel zu denen in anderen Teilen des Reiches. Die Norddeutsche Volksstimme, die Zeitung der Arbeiterschaft, wurde sofort nach dem Reichstagsbrand verboten, die letzte Ausgabe stammt vom 27. Februar. Im Vorlauf der Reichstagswahlen vom 5. März wurden zahlreiche Wahlaufrufe veröffentlicht, es lassen sich aber keine Anzeigen der Arbeiterparteien nachweisen. Die nach der Wahl stattfindende große Demonstration der Arbeiterparteien wurde in den Zeitungen nicht erwähnt. Die politische Gleichschaltung erfolgte in Bremerhaven am 28. März, als der bisherige liberale Oberbürgermeister Becké durch den NSDAP-Stadtrat Lorenzen ersetzt wurde.

Dokument: Wahlaufrufe im Vorlauf der Wahlen zum Reichstag(PDF 707,0 KB)

Dokument: Gleichschaltung in Bremerhaven(PDF 77,7 KB)

Bereits Anfang März erschienen Berichte über die Aktivitäten der Nationalsozialisten in den verbliebenen beiden Zeitungen, den Wesermünder Neueste Nachrichten (WNN) und der Nordwestdeutsche Zeitung (NWZ) [Anm. 1].

Auf dem Weg in die Diktatur: Zentralstaat, Ausgrenzung und Ausschaltung der Gegner

Mit Verabschiedung des „Ermächtigungsgesetzes“ am 23. März erfolgte die formelle Aufhebung der Gewaltenteilung durch Vereinigung von Exekutive und Legislative. Die dazu notwendige Zweidrittelmehrheit wurde durch die Abwesenheit der Abgeordneten der KPD, die entweder bereits verhaftet oder aber untergetaucht waren, und durch das Entgegenkommen der katholischen Zentrumspartei erreicht. Darauffolgend wurde die Eigenständigkeit der Länder aufgehoben, ein zentralistischer Staat entstand. Die nun einsetzende geistige und gesellschaftliche Gleichschaltung trieb die Verfolgung von Gegnern weiter voran, so wurden beispielsweise durch das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April missliebige Personen, insbesondere Juden, aus dem Staatsapparat entfernt, am 2. Mai die Gewerkschaften und am 14. Juli sämtliche Parteien mit Ausnahme der NSDAP aufgelöst und verboten. Gleichzeitig setzte eine Durchdringung des Lebens mit nationalsozialistischen Organisationen und Verbänden (beispielsweise Bund der Lehrer, Bund der Kraftfahrer, Hitlerjugend) ein. Die Folgezeit war geprägt von Aufmärschen, Feierlichkeiten und Aktivitäten – propagiert und inszeniert vom neuen Regime.

Die Ernennung von 5.000 SA-Männern zu Hilfspolizisten auf Reichsebene war der Auftakt zur Verfolgung der Gegner. Spektakuläre Bilder, die zeigen, wie die SA ihre Gegner durch die Straßen trieb, gab es in Bremerhaven und Wesermünde nicht, die Verhöre von politischen Gegnern fanden in hier zunächst in den Kellern des Polizeigebäudes in der Jacobistraße statt, wo heute eine Gedenktafel angebracht ist:

Bildnachweis: Stadtarchiv Bremerhaven, Bildsammlung

Als die Schmerzensschreie der Gequälten auf dem „Gespensterschiff“, einem weiteren Ort solcher Verhöre, das im Juni als ein in den Niederlanden für die Marine-SA gekauftes Minensuchschiff vorgestellt wurde, zu laut wurden, verlegte man dieses mehrfach. Bis Ende Januar 1934 bestand zudem ein Konzentrationslager auf der Insel Langlütjen II in der Wesermündung, in dem viele Bremer und Bremerhavener Regimegegner interniert wurden. Ein Bild der Aktivitäten der SA in Bremerhaven zeichnet auch die Berichterstattung von Mitte August 1933, als politische Gegner zu einer „Säuberungsaktion“ in den Fischereihafen zusammengetrieben wurden, um Schmierereien gegen die Nazis zu beseitigen.

Dokument: Das Gespensterschiff(PDF 478,8 KB)

In dieser frühen Phase drangen auch noch einige Gerüchte aus den Lagern an die Öffentlichkeit, sodass die Nationalsozialisten mit gezielter Propaganda gegensteuerten. Am 29. März erschien die Nachricht eines Häftlings, der berichtet, er sei in der Jacobistraße korrekt und human behandelt worden, alles andere sei eine Lüge. Am 4. Mai folgte der Bericht eines Reporters, der berichtet, er habe ein Lager in Bremen, das Konzentrationslager Mißler, in dem auch Personen aus den Unterweserorten interniert wurden, besuchen können und wisse jetzt, dass die Gerüchte erstunken und erlogen seien.

Dokument: Besuch des Konzentrationslagers Mißler(PDF 755,0 KB)

Wie es vor Gericht zuging, zeigt ein Artikel vom 06. April 1934 über die Kommunistin und Widerstandskämpferin Minna Rattay, die wegen der Misshandlung ihres Mannes auf dem „Gespensterschiff“ Anzeige erstattete. Sie wurde als Denunziantin zu einem halben Jahr Gefängnis verurteilt. Allerdings konnte sie hiernach keineswegs unbehelligt leben, sie wurde noch mehrfach vor Gericht gestellt, verurteilt und starb 1943 im Konzentrationslager von Auschwitz. 

Dokument: Minna Rattay vor Gericht(PDF 530,7 KB)

Gezielte Falschmeldungen wurden ebenfalls publiziert. Nach Razzien in den und Verwüstung der Gewerkschaftsbüros am 2. Mai erschien am 8. Mai das Bild des verwüsteten Bremerhavener Gewerkschaftshauses „Eintracht“, das suggeriert, die chaotischen Zustände seien so vorgefunden worden.

Dokument: Verwüstung des Gewerkschaftshauses "Eintracht"(PDF 547,1 KB)

Die reichsweiten Bücherverbrennungen vom 10. Mai fanden in Bremerhaven verfrüht, bereits am 06. Mai, statt. Offensichtlich wollten die neuen Herren dadurch demonstrieren, wer in der einstigen Arbeiterhochburg nun das Sagen hatte.

Dokument: Bücherverbrennung in Bremerhaven(PDF 542,8 KB)

Die Ausgrenzung und Verdrängung der jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger schritt ebenfalls voran. Sie wurden gezwungen, ihre Geschäfte als jüdisch zu kennzeichnen. Einer der bekanntesten Kaufleute der Region, Dagobert Kahn, der noch am 3. Januar 1933 nach 3 Jahren Wirtschaftskrise das Jahr mit einer Anzeige recht optimistisch begrüßt hatte, gab zum 1. September sein Geschäft auf. Sein Nachfolger betonte durch mehrfache Zeitungsinserate, dass dieses Geschäft nun ein christliches  sei. Dass Dagobert Kahn ein Veteran des Ersten Weltkrieges war, nützte ihm offensichtlich wenig, da er unter den vielen war, die ihre Zugehörigkeit zum Judentum offen zeigten.

Dokument: Eine "rein christliche Firma"(PDF 826,0 KB)

Allerdings spürten auch weitere Kreise der Bevölkerung, dass sich die Zeiten änderten. So fand bereits am 24. März eine Luftschutzübung statt, später wurden auch Verhaltensregeln für den Fall eines Luftangriffs veröffentlicht und die gemäß des Versailler Vertrages untersagte Luftbewaffnung gefordert.

Dokument: Luftschutzübung an der Unterweser(PDF 541,2 KB)

Während der zweiten Hälfte des Jahres 1933 war die Berichterstattung in den Zeitungen durch die Versuche der neuen Machthaber, die Bevölkerung für sich gewinnen, gekennzeichnet. Billige Eintopfessen, Aktionen des von den Nationalsozialisten gegründeten Winterhilfswerkes, Meldungen über sinkende Arbeitslosenzahlen, Aufmärsche aller möglichen Parteiorganisationen und Festivitäten wurden unter dem Schlagwort der „Volksgemeinschaft“ propagiert. Immer wieder wurden verschiedene nationalsozialistische Organisationen mit ihren Rangabzeichen und schließlich eine Liste vorgestellt, auf der die jeweiligen Leiter mit Namen und Dienstadresse vermerkt waren. Wiederholt wurde auch von Razzien und Festnahmen berichtet, die suggerierten, die neue Ordnung sei noch immer bedroht.

Dokument:Winterhilfswerk(PDF 890,9 KB)

Dokument: Anhaltende Verfolgung und Inhaftierung(PDF 237,8 KB)

Die hier jeweils hinterlegten exemplarischen Quellen vermögen einen gewissen Bezug zwischen dem summarischen Begriff der „Machtergreifung“ und hiesigen lokalen Entwicklungen herzustellen – man sollte allerdings nicht außer Acht lassen, dass es sich lediglich um eine Auswahl aus dem zur Verfügung stehenden Material handelt.

Weiterführende Literatur

  • Bartlitz, Christine; Herfort, Edelgard: Mutterland. Minna Rattay (1902-1943) und ihre Töchter, Berlin 2012.
  • Bickelmann, Hartmut (Hrsg.): Bremerhavener Persönlichkeiten aus vier Jahrhunderten. Ein biographisches Lexikon, Bremerhaven 2003.
  • Ernst, Manfred: Der aufrechte Gang. Widerstand und Verweigerung in Bremerhaven 1933-1945, Bremerhaven 1985.
  • Fahrentholtz, Ingrid: Kein Recht zu leben?, Selbstverlag 1992.
  • Das Gespensterschiff, hrsg. v. Lehrerfortbildungsinstitut Bremerhaven; Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft Bremerhaven, Nachdruck der Originalausgabe von 1983, Bremerhaven 2009.
  • Herbig, Rudolf: Nationalsozialismus in den Unterweserorten. Zum Wesen und zum Begriff des Nationalsozialismus und zum Widerstand im Dritten Reich, Wolframs-Eschenbach 1982.
  • Schreckenberg, Julius (Hrsg.): Festungsinseln an der Wesermündung und Konzentrationslager Langlütjen II, Ochtumsand. Geschichte, Dokumente, Berichte, 4. Aufl., Selbstverlag 1993.
  • Weiher, Uwe: Die jüdische Gemeinde an der Unterweser. Vom „deutschen Staatsbürger jüdischen Glaubens“ zum „Feind im eignen Land“ (Kleine Schriften des Stadtarchivs, Bd. 7), Bremerhaven 1989.
  • Wieland, Lothar: Die Konzentrationslager Langlütjen II und Ochtumsand (Editionen des Kulturamtes der Seestadt Bremerhaven, Bd. 3), Bremerhaven 1992.
  • Wippermann, Wolfgang: Aufstieg und Machtergreifung der NSDAP in Bremerhaven-Wesermünde, in: Jahrbuch der Männer vom Morgenstern 57 (1978), S. 165-200.

[Anm. 1] Beide Zeitungen sind im rechten politischen Spektrum zu verorten, im Falle der WNN war dies noch ausgeprägter der Fall als bei der NWZ, vgl. Lübben, Jost: Die Nordwestdeutsche Zeitung 1885 bis 1933/45. Ein Beitrag zur Entwicklung und politischen Ausrichtung der Generalanzeigerpresse in Deutschland (Veröffentlichungen des Stadtarchivs Bremerhaven, Bd. 13), Bremerhaven 1999, S. 121.

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