Rede von Oberbürgermeister Melf Grantz bei der Demonstration gegen das Kernkraftwerk Unterweser in Rodenkirchen

Morgen sind es 25 Jahre her, seitdem das geschah, was nach der Logik der Atomindustrie erst in Tausenden von Jahren hätte passieren können: Im Atomkraftwerk Tschernobyl ereignete sich der Super-GAU. Die Tragödie in der ukrainischen Stadt, die eine ganze Region unbewohnbar machte, ist unvergessen. Ein Vierteljahrhundert später, am 11. März 2011, kam es erneut zu einer atomaren Katastrophe. Diesmal nicht in einem so genannten Schrottreaktor wie in Tschernobyl, sondern in einem Kraftwerk des Hochtechnologielands Japan, in einem Atommeiler mit angeblich erstklassigen Sicherheitsstandards. Noch wissen wir nicht, ob es den dortigen Einsatzkräften gelingen wird, eine vollständige Kernschmelze zu verhindern. Doch wir wissen bereits, dass auch das Gebiet um Fukushima zu einer Todeszone geworden ist.

 Tschernobyl vor genau 25 Jahren und Fukushima – diese beiden Ereignisse sollten jedem klargemacht haben: Die Atomenergie ist nicht beherrschbar, ein Atomkraftwerk ist weder sicher noch umweltfreundlich. Die Folgen eines Atomunglücks übersteigen jegliches menschliches Vorstellungsvermögen. Angesichts der dramatischen Bilder aus Japan mussten auch die engagiertesten Kernkraft-Anhänger erkennen, dass die Nutzung der Atomenergie ein verhängnisvoller Irrweg ist. Die Bedenken, die seit vielen Jahren immer wieder in Brokdorf, Gorleben, Esenshamm und anderswo gegen die Atomkraft geäußert worden sind – sie waren nur allzu berechtigt.

 Deshalb haben wir uns am heutigen Ostermontag, einen Tag vor 25 Jahren Tschernobyl, zu dieser machtvollen Demonstration versammelt. Hier am AKW Unterweser setzen wir ein deutliches Signal gegen die Atomenergie. Wir fordern von der Bundesregierung: Die Atomkraft in Deutschland muss abgeschaltet werden. Seit Fukushima ist das Atomzeitalter endgültig vorbei. Das AKW Unterweser und die anderen sechs stillgelegten Reaktoren dürfen nicht wieder ans Netz gehen. Der Betrieb der anderen Atomkraftwerke muss so schnell wie möglich auslaufen. Diese Forderung gilt selbstverständlich auch für alle anderen Länder, vor allem für unsere europäischen Nachbarn, denn die Kernenergie ist in Deutschland ebenso gefährlich wie in Frankreich oder Polen.

 Die Atomwirtschaft hat keine Zukunft mehr. Noch wenige Tage vor Fukushima hatte die Bundeskanzlerin wider besseren Wissens behauptet, dass die Atomenergie sicher und unverzichtbar sei. Jetzt weiß Frau Merkel, dass die von ihrer Regierung beschlossene Laufzeitverlängerung für die Atomkraftwerke ein riesiger Fehler war. Daher ist die panikartige Entscheidung der Bundesregierung, die Altanlagen nach der Katastrophe in Japan für drei Monate vom Netz zu nehmen, völlig unzureichend. Wir wollen nicht, dass nur für ein Vierteljahr in einem Moratorium auf Zeit gespielt wird. Die Laufzeitverlängerung muss zurückgenommen, die Energiewende endlich beschleunigt werden. Wir wollen den Atomausstieg jetzt, wir wollen ihn sofort. Nicht für drei Monate, sondern für immer. Wir wollen den schnellstmöglichen Umstieg von der Atomindustrie in eine sichere und saubere Energieversorgung. Darin sind wir uns mit der großen Mehrheit der deutschen Bevölkerung einig, die dafür auch höhere Strompreise in Kauf nehmen würde.

 Die Forderung nach Abschalten vereint ganz besonders viele Menschen hier an der Unterweser. Die gesamte Region mit dem Oberzentrum Bremerhaven, deren Oberbürgermeister ich bin, und den Landkreisen Wesermarsch und Cuxhaven liegt in unmittelbarer Nähe des Reaktors Esenshamm. Dieses Atomkraftwerk ist nicht sicher und vor allem nicht vor Flugzeugabstürzen geschützt. Ein tödlicher Super-GAU kann somit jederzeit vor unserer Haustür geschehen und die Region weitgehend unbewohnbar machen. Als das AKW Unterweser in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre gebaut wurde, ahnte niemand, dass ein Flugzeug eines Tages als Bombe eingesetzt werden könnte. Seit dem 11. September 2001 wissen wir, wozu Menschen fähig sind. Deshalb sage ich: Es ist nicht länger zu verantworten, einen so alten Atommeiler wie Esenshamm mit so offensichtlichen Sicherheitsmängeln weiter zu betreiben.

Atomkraft ist nicht nur als Energieform lebensgefährlich – sie erzeugt auch hochgiftigen Müll, der zum Teil noch viele tausend Jahre strahlt. Obwohl die Menge immer größer wird, ist die Frage der Endlagerung nicht einmal ansatzweise geklärt. Die Atommülllager Asse II und Morsleben haben gezeigt, dass radioaktive Abfälle nicht einmal für Jahrzehnte sicher gelagert werden können. Die Asse säuft schon seit 20 Jahren ab und wird mit Unmengen von Steuergeldern saniert. Mehr als 200 000 Tonnen hochradioaktiven Mülls warten bis jetzt auf ein sicheres Endlager.

 Wir wollen nicht hinnehmen, dass diese strahlende Hinterlassenschaft der Atomindustrie in normalen Lagerhallen aufbewahrt oder mit einem riesigen Polizeiaufgebot durch die Lande kutschiert wird. Castortransporte haben in unserer Region nichts zu suchen. Auch nicht in den Häfen von Bremerhaven, die immer wieder von der Kernkraft-Lobby als Umschlagsort ins Gespräch gebracht werden. Als Bremerhavener Oberbürgermeister fordere ich das Umschlagsunternehmen BLG auf, sich Atomtransporten über Bremerhaven zu widersetzen.

Wenn von Bremerhaven gesprochen wird, soll künftig nicht von Transporten radioaktiven Mülls, sondern von sicherer, erneuerbarer und klimafreundlicher Energie die Rede sein. Bremerhavens Zukunft liegt im Bau und der Wartung von Windparks auf hoher See, und davon profitiert die ganze Region. In den vergangenen Jahren hat sich diese Stadt zum Zentrum der Offshore-Windkraft entwickelt. 1700 Arbeitsplätze sind bereits entstanden. Bis Ende dieses Jahres können noch Hunderte weitere dazukommen. Der Bau eines Schwerlasthafens an der Weser für den Umschlag von Offshore-Windradanlagen wird zusätzliche Jobs bringen.

 Viele Arbeitnehmer in dieser Branche kommen aus dem Umland, aus den Landkreisen Cuxhaven und Wesermarsch. Deshalb ist die Windkraft in Bremerhaven ein wichtiger Jobmotor, der auf die gesamte Region ausstrahlt. Wir brauchen nicht die Atomindustrie, um sichere Arbeitsplätze zu schaffen. Die Zukunft wird bestimmt von erneuerbaren Energien, und deshalb brauchen wir einen ökologischen Kurswechsel – weg vom Atomstrom, hin zu Ökostrom und zu effizienten und nachhaltigen Technologien.

 Dennoch wird das Abschalten des Atomkraftwerks Unterweser zwangsläufig dazu führen, dass Arbeitsplätze gefährdet sind. Solche Befürchtungen müssen wir ernst nehmen, denn natürlich ist das KKW Unterweser auch ein wichtiger Beschäftigungsfaktor. Die Sorge der betroffenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer um ihre Arbeitsplätze ist nur allzu verständlich, und sie können sicher sein, dass wir sie damit nicht alleinlassen werden. Ein Teil von ihnen wird auch nach der dauerhaften Stilllegung des Reaktors benötigt, der ja bis zum Abriss viele Jahre weiter gewartet werden muss. Für die anderen muss es neue Beschäftigung in der Region geben, beispielsweise in der Offshore-Windenergie, die großen Bedarf an qualifizierten Arbeitskräften hat. Das sind gute Perspektiven. Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer des AKW Unterweser müssen also nicht befürchten, durch die Abschaltung arbeitslos zu werden.

 Meine Damen und Herren, mit dem weiteren Ausbau der Zukunftsbranche Offshore-Windkraft ist unsere Region für die notwendige Energiewende gut gerüstet. Wir brauchen die Atomkraft nicht, um unsere Energieversorgung zu sichern. Stattdessen müssen wir jetzt mit aller Kraft den Umstieg auf erneuerbare Energien, auf mehr Energieeffizienz und auf den Bau moderner Kraftwerke vorantreiben. Windkraft statt Atomkraft – so lautet unser Ziel, und das haben wir heute mit dieser Demonstration zum Ausdruck gebracht. Ich danke Ihnen allen, dass Sie heute dabei waren, und wünsche Ihnen noch einen schönen Ostermontag.

Für diesen Artikel wurden folgende Schlagworte vergeben