Rede von Oberbürgermeister Jörg Schulz zur Verleihung des Stifterpreises der Bremerhavener Wirtschaft an den Jeanette Schocken Verein

Anrede,

es gilt das unerschrockene Wort - so lautet der Titel unter dem der "Jeanette Schocken Preis - Bremerhavener Bürgerpreis für Literatur" im Jahre 2006 im ersten Wettbewerb "Deutschland - Land der Ideen" unter der Schirmherrschaft des Bundespräsidenten ausgezeichnet wurde. Diese Auszeichnung haben mittlerweile auch andere Kultureinrichtungen der Stadt erhalten, wie z.B. das Deutsche Auswandererhaus. Der Jeanette Schocken Preis war die erste "Idee" in der Stadt, die diese Würdigung entgegennehmen konnte.

Im Vordergrund dieser Auszeichnung stand, dass die Preissumme - und das ist einmalig in Deutschland -, von den Bürgerinnen und Bürgern der Stadt Bremerhaven aufgebracht wird. Aber auch die inhaltliche Ausrichtung und historische Verbindung zwischen Literaturpreis und Stadtgeschichte existiert kein weiteres Mal: Ein Literaturpreis wird in einer Stadt vergeben, in der bereits vier Tage früher als im übrigen nationalsozialistischen Deutschland Bücher verbrannt werden und diese Stadt ist gleichzeitig für viele Verfolgte letzte Station auf der Flucht ins Exil gewesen.

Die Bremerhavenerin Jeanette Schocken, Ehefrau des Kaufhausbesitzers Joseph Schocken, konnte nicht fliehen. Ihre Tochter war krank. Mutter und Kind wurden am 17.11. 1941 mit anderen Bremerhavener Juden nach Minsk deportiert und dort ermordet.

Der Name Jeanette Schocken, meine Damen und Herren, und die Geschichte der Hafenstadt sind Programm des Preises: Erinnerung an die Bücherverbrennung und die Vernichtung des Geisteslebens durch den Nationalsozialismus, die Erinnerung an das Schicksal all jener Menschen, die vor der Barbarei flohen oder ihr zum Opfer fielen. Das war der Ausgangspunkt dafür, mit dem Literaturpreis ein Zeichen gegen Unrecht und Gewalt, gegen Hass und Intoleranz zu setzen.

Im Statut heißt es: "Mit dem Bekenntnis zur verbotenen und verbrannten, zur unterdrückten und ausgegrenzten Literatur verbindet der Preis die Ermutigung an alle schreibenden Künstler, deren Literatur für dieses Bekenntnis steht, und die deshalb selbst der Förderung, Hilfe oder Anerkennung bedürfen."


Meine Damen und Herren, heute wird der Jeanette Schocken Verein, der diese Idee hervorgebracht, umgesetzt und 20 Jahre lang mit Leben erfüllt hat, für die ehrenamtlichen Verdienste um das literarische und kulturelle Leben der Stadt, für die Erinnerung an die Vertreibung und Ermordung der Juden mit dem "Stifterpreis der Bremerhavener Wirtschaft" ausgezeichnet.

Meinen herzlichen Glückwunsch an die Vereinsmitglieder Dr. Manfred Ernst, Johann P. Tammen, Dr. Gisela Lehrke, Dorothee Starke, Elke Berthin, Peter Koettlitz und Rainer Donsbach, die heute den Verein bilden. Dem Gründerkollegium, das in den Jahren 1989 bis 1990 das Statut und damit die Ideen für die Ausrichtung des Preises entwickelte, gehörten außer Dr. Ernst und Johann P. Tammen die Herren Hans E. Happel, Albrecht Willer und Volker Heigenmooser an, deren Engagement wir an dieser Stelle ebenfalls würdigen. Weiteres Vereinsmitglied war Ursel Dietz, die langjährige Leiterin der Büchergilde Gutenberg, die über Jahre ihren Sachverstand eingebracht hat.

Die Idee des Gründerkollegiums hat der seinerzeit amtierende Kulturdezernent Horst von Hassel dankbar aufgegriffen und mit der ihm eigenen Durchsetzungs- und Überzeugungskraft 1990 durch den Kulturausschuss gedrückt. Ich glaube, das ist das richtige Wort dafür, denn es ging um die Beteiligung der Stadt Bremerhaven und damit auch um die nötige finanzielle Ausstattung des Umfeldes des Literaturpreises. Die Bürgerinnen und Bürger spenden das Preisgeld, das sich derzeit auf 7500 Euro beläuft, das Rahmenprogramm jedoch, d.h. die Lesungen, bisweilen auch Ausstellungen, Kongresse sowie Filmvorführungen und die damit verbundenen Honorar -, Reise- und Übernachtungskosten, Raummieten, Bewirtungen etc. trägt die Stadt Bremerhaven. Der Preisverleihung alle zwei Jahre folgen zumeist vier weitere Veranstaltungen, und im alternierenden Jahr finden ebenfalls vier literarische Veranstaltungen, die Jeanette Schocken Literaturtage, statt. Das finanziert die Stadt Bremerhaven ebenfalls.

Die Stadt Bremerhaven ist Kooperationspartner des Jeanette Schocken Vereins, und Kulturamtsleiterin Dr. Gisela Lehrke ist seit 1990 für die Stadt Mitglied des Vereins.

Der Erfolg hat zumeist viele Väter und Mütter. Und so darf hier die unabhängige Jury, die ehrenamtlich und somit unentgeltlich arbeitet, und die die Preisträgerinnen und Preisträger auswählt, nicht unerwähnt bleiben. Zu Ihrem Verständnis, meine Damen und Herren: Die ersten fünf Jurymitglieder hatte das Gründerkollegium berufen: die Damen Prof. Carola Stern und Dr. Elsbeth Wolffheim, die Herren Hugo Dittberner, Prof. Emmerich und Prof. Promies. Persönlichkeiten, die literarische Kompetenz und politisches Engagement im Sinne des Preises mitbrachten. Die bekannteste ist wohl ohne Zweifel die streitbare Carola Stern, Publizistin und Journalistin und Gründungsmitglied von amnesty international. Sie war bis zu ihrem Tod im Jahre 2006 Mitglied in der Jury und hat diese stark geprägt. "Du fährst nach Bremerhaven", hat ihr Mann gefragt, "ach da, wo Du immer so gerne hinfährst." Carola Stern hat im Jahr 2000 in der Dokumentation "10 Jahre Jeanette Schocken Preis" bekannt, sie fühle sich hier stets unter Wahlverwandten. Nach ihrem Tod ist auf ihren Wunsch hin die Publizistin Gabriele von Arnim Mitglied der Jury geworden.

Dr. Elsbeth Wolffheim hat Bremerhaven die "Dependance ihres Herzens" genannt. Die Literaturhistorikerin, Slawistin, Übersetzerin und Autorin war Mitglied im P.E.N. und für das Hilfsprogramm "Writers in Exil" zuständig. Elsbeth Wolffheim verstarb 2002, und für sie kam die Schriftstellerin Zsuzsanna Gahse in die Jury.

Prof. Wolfgang Emmerich, der Bremer Literaturwissenschaftler, ist seit 20 Jahren in der Jury. Von seinen umfangreichen Veröffentlichungen nenne ich nur die Literaturgeschichte der DDR, seine Arbeiten über Gottfried Benn, Paul Celan und Heinrich Mann sowie "Lyrik im Exil". Ebenfalls über 20 Jahre dabei ist der Schriftsteller Hugo Dittberner. Für ihn ist Bremerhaven der "Kristallisationsort einer bestimmten (Bücher) Kultur geworden: der Erinnerung an Jeanette Schocken und die Menschen, die leiden mussten wie sie; des Neins zur Unmenschlichkeit und Freiheitsberaubung; der Hoffnung auf eine Kultur, deren Herz dies Nein zur Welt der Schergen ist."

Meine Damen und Herren, diese Jury hat den Jeanette Schocken Preis mit Weitsicht ausgelobt und den Preis im literarischen Leben Deutschlands positioniert. In der Stadt Bremerhaven gehören die Preisverleihungen zu den kulturellen Höhepunkten. Mehrere Preisträgerinnen und Preisträger wie Irene Dische, Louis Begley, Imre Kertész, Tuvia Rübner und Lizzie Doron waren zu dem Zeitpunkt, als sie den Schocken Preis erhielten, Debütanten oder in Deutschland noch unbekannt. Die deutsch-amerikanische Schriftstellerin Irene Dische, die erste Preisträgerin, hatte 1990 "Fromme Lüge" und "Der Doktor braucht ein Heim" veröffentlicht. Seitdem hat sie elf weitere Romane geschrieben, darunter Bestseller wie "Großmama packt aus".

Louis Begley, der Preisträger von 1995, wurde für seinen ersten Roman "Lügen in Zeiten des Krieges" ausgezeichnet. Er hat seitdem sieben weitere Romane geschrieben. Sein Roman "Schmidt" wurde mit Jack Nicholson in der Hauptrolle verfilmt.

Der ungarische Schriftsteller Imre Kertész, bereits 1997 mit dem Jeanette Schocken Preis ausgezeichnet für "Roman eines Schicksallosen", in dem er seine Zeit als Häftling im Konzentrationslager Buchenwald bearbeitet, erhielt im Jahr 2002 als erster ungarischer Autor den Nobelpreis für Literatur. Dieses Werk wurde zunächst abgelehnt, dann 1975 von einem staatlichen Verlag in Ungarn veröffentlicht, aber totgeschwiegen. 2007 hat der ungarische Kulturminister dem Nobelpreisträger den Titel "Kulturgesandter Ungarns" verliehen. "Roman eines Schicksallosen" gehört heute in Ungarn zur Schullektüre.

Der israelische Lyriker Tuvia Rübner, aufgewachsen in einer deutschsprachigen jüdischen Familie in Pressburg, konnte, nachdem seine Eltern und seine Schwester nach Polen deportiert worden waren, mit einer Gruppe von Jugendlichen 1941 nach Palästina flüchten. Gleich nach seiner Ankunft im Kibbuz Merchavia, wo er heute noch lebt, begann er Gedichte zu schreiben. Sonst betätigte er sich als Schafhirte und Arbeiter in den Weinbergen, später wurde er ohne spezielle akademische Ausbildung Lehrer und dann Universitätsprofessor. 1990 erschienen seine Gedichte in Deutschland, 1999 erhielt er den Jeanette Schocken Preis, im letzten Jahr ehrte Israel ihn mit dem Israelischen Staatspreis.

Im Reigen der Preisträger bildet der große und damals bereits hoch betagte Theatermann George Tabori, der 2003 ausgezeichnet wurde, die Ausnahme. Seine Wahl begründete die Jury so: "Der Jeanette Schocken Preis soll im 70. Jahr der Bücherverbrennung an den herausragenden Dramatiker des 20. Jahrhunderts, den bedeutenden Erzähler und den in seiner Konzentration auf den Schauspieler einzigartigen Regisseur George Tabori gehen. Mit Ironie und Selbstironie, mit Witz und Leichtigkeit hat er sein Werk mitten in den Abgrund der deutsch-jüdischen Geschichte gestellt. Die reinigende Wirkung seiner Stücke, Bücher und Inszenierungen ermöglicht uns Deutschen einen freieren Blick auf unsere Geschichte und öffnet die Wahrnehmung für die Gewalt in der Welt. Als querständiger Weltbürger und Ausländer schlechthin, wenn man das so sagen darf, ist er ohne moralisierenden Gestus eine Jahrhundertfigur der Emanzipation des Opfers, die uns die Hand reicht."
Mit dieser Begründung hat die Jury nicht nur etwas über den Preisträger gesagt, sondern auch den Preis selbst charakterisiert.

Meine Damen und Herren,
in den 20 Jahren seines Bestehens hat der Jeanette Schocken Verein über 90 Veranstaltungen in Bremerhaven angeboten. Außer den Preisträgern waren zu den Jeanette Schocken Literaturtagen unter anderem folgende Autorinnen und Autoren hier zu Gast: Ulla Hahn, Gregor von Rezzori, der polnische Schriftsteller André Szczypiorski, der ungarische Schriftsteller Györgi Konrád, Wladimir Kaminer, die Japanerin Yoko Tawada, der Österreicher Robert Menasse, Friedrich Christian Delius. Die Schauspieler André Eisermann und Udo Samel lasen aus Heinrich Böll und Viktor Klemperer, Bremerhavener Bürgerinnen und Bürger aus Walter Kempowski "Echolot - Abgesang 1945".

Die Lesungen wurden ergänzt durch zahlreiche andere Veranstaltungen wie z. B. eine Ausstellung über emigrierte Schriftsteller und ihre Werke, eine Fotoausstellung mit jüdischen Porträits von Herlinde Koelbl, die Ausstellung "Das Ghetto - Spaziergang durch die Hölle" von Günther Schwarberg, die Ausstellung über den Amsterdamer Exilverlag "Querido" gemeinsam mit dem Schiller Nationalmuseum und Deutschen Literaturarchiv in Marbach, ein Theaterstück basierend auf der Lebensgeschichte der Dichterin Else Lasker-Schüler, den Dokumentarfilm über Salman Schocken, den Schwager von Jeanette Schocken, und last but not least das PEN-Symposion zum Thema "Verlegen im Exil" 1997, in dessen Rahmen allein 32 Vorträge bzw. Lesungen stattgefunden haben.

Meine Damen und Herren, blicken wir noch einmal zu den Anfängen zurück und gehen der spannenden Frage nach, wie diese preisgekrönte Idee entstanden ist. Das Archiv des Schocken Preises lagert beim zuständigen Kulturamt und nimmt einen Schrank im Zimmer der Amtsleiterin ein, enthält aber keine Dokumente zu den Anfängen. Es gibt lediglich Konzeptpapiere, die sich damit befassen, welchen Namen man dem Preis geben könnte. Folgt man den Erzählungen einzelner Vereinsmitglieder - also der Legenden- und Mythenbildung -, dann spielt dabei ein k einer Plastikküchentisch in Weddewarden eine entscheidende Rolle, an dem zwei Männer saßen. Weitere Personen wurden mit einbezogen, die zur kulturellen Öffentlichkeit gehörten, die sich über den Kunstverein, Buchhandlungen oder den Deichkrug kannten. Dann ist die Rede von einem weiteren Tisch, ein großer Holztisch, am Heideweg, an dem selbstgebeizter Lachs gegessen wurde, auch von alkoholischen Getränken wird gesprochen: ob Calvados oder französischer Rotwein überwog, das bleibt im Dunkeln; neuerdings sollen auch Wasserflaschen und statt des Lachses nur noch Erdnüsse auf dem Tisch stehen.

Wie auch immer, es muss eine überaus anregende Atmosphäre geherrscht haben. Da hatten literaturbegeisterte Menschen Lust, etwas Neues zu kreieren. Und sie hatten nicht nur Fisch und Wein auf dem Tisch, sie vereinten auch Sachverstand, Zielstrebigkeit und literarische Kompetenz miteinander. Dr. Manfred Ernst als Jurist und Literaturbegeisterter, bewandert in Stadtgeschichte, insbesondere in der NS-Geschichte, hatte dazu bereits veröffentlicht und Johann P. Tammen, Lyriker, Herausgeber der Literaturzeitschrift "die horen", Mitglied im P.E.N., also der Fachmann, der zudem über die nötigen Kontakte zu Autorinnen und Autoren verfügte. Hans E. Happel, der Deutschlehrer und Journalist hatte im November 1988 - 50 Jahre nach der Pogromnacht - im Selbstverlag den Band "Schocken eine deutsche Geschichte" herausgebracht. Das waren die ersten Grundlagen, neben dem literarischen Sachverstand der übrigen Beteiligten.

Daraus ist schließlich ein Literaturpreis "erwachsen", den die Schriftstellerin Barbara Honigmann, Preisträgerin des Jahres 2001, nach dem Fest, das traditionell am Abend vor der Preisverleihung im Ernstschen Haus und Garten stattfindet, so charakterisiert hat:
"Der Jeanette Schocken Preis ist der einzige Literaturpreis mit Familienanschluss."

Dieser Anschluss, meine Damen und Herren, setzt sich fort bis nach Israel und in die USA. Wir sind stolz darauf, dass seit Beginn der Preisverleihung Kinder und Enkelkinder von Jeanette Schocken nach Bremerhaven gekommen sind. Sie haben erfahren, das hier nicht von "der Gnade der späten Geburt" schwadroniert wurde, sondern wir mit ihnen, den Preisträgerinnen und Preisträgern und den Mitgliedern der Jury ernsthafte Gespräche über Tod und Verfolgung, über Verlust von Heimat und Identität begonnen haben. Dies ist für uns alle in dieser Stadt ein Gewinn, der nicht zuletzt durch die Verleihung des Stifterpreises der Bremerhavener Wirtschaft fortgeführt wird. Auch im Namen der Stadt Bremerhaven bedanke ich mich für diese Auszeichnung. Den Preisträgern gilt mein herzlicher Glückwunsch.

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