Rede von Oberbürgermeister Jörg Schulz zur Eröffnung der Ausstellung "Der nationalsozialistische Völkermord an den Sinti und Roma"

Anrede,

am morgigen 8. Mai jährt sich zum 65. Mal der Tag, an dem der Zweite Weltkrieg mit der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands endete und unser Land vom Faschismus befreit wurde. Das nationalsozialistische Deutschland hatte Krieg und Völkermord, Unmenschlichkeit und Barbarei über Europa gebracht. Ein beispielloses Blutvergießen ging zu Ende, das rund 60 Millionen Menschen das Leben kostete.

Ein anderer, weitaus weniger bekannter Gedenktag liegt am übernächsten Sonntag vor uns: Am 16. Mai vor 70 Jahren begann die Massendeportation von Sinti und Roma - in Bremerhaven ebenso wie in zahlreichen anderen deutschen Städten. 1940 hatte der „Reichsführer SS" Heinrich Himmler angeordnet, ganze Familien mit Tausenden Menschen in das besetzte Polen zu verschleppen. In der damaligen Stadt Wesermünde wurden am 16. Mai 1940 zwischen 3 und 4 Uhr morgens rund 100 Sinti verhaftet und im Polizeigefängnis an der Karlsburg interniert. Von hier aus führte ihr Leidensweg über Hamburg in die Lager des Ostens. Diese Deportation war für sie der Beginn eines unbeschreiblichen Martyriums: Hunger, Krankheit, medizinische Experimente. Fast alle Deportierten fanden in den KZs den Tod.

Am 16. Dezember 1942 unterzeichnete Himmler den so genannten Auschwitz-Erlass, der die zweite Deportationswelle und den Höhepunkt der Diskriminierung und Verfolgung von Sinti und Roma einleitete. Anfang März 1943 wurden etwa 20 Angehörige dieser Bevölkerungsgruppe aus Wesermünde in ein Sammellager am Bremer Schlachthof verschleppt. Von dort aus deportierte die SS sie zusammen mit anderen Sinti und Roma aus ganz Norddeutschland in das Vernichtungslager Auschwitz. Auch von ihnen wurden die meisten in den Gaskammern ermordet oder bei grausamen medizinischen Experimenten getötet. Schätzungen gehen davon aus, dass bis zu einer halben Million Sinti und Roma aus ganz Europa dem Rassenwahn der Nationalsozialisten zum Opfer fielen.

An diese historischen Fakten über das unermessliche Leid der Sinti und Roma erinnern wir uns am 16. Mai und am 16. Dezember. Nach dem Krieg dauerte es allerdings beschämend lange, bis die deutsche Öffentlichkeit davon überhaupt Kenntnis nahm. Die Sinti und Roma haben zu Recht immer wieder darauf hingewiesen, dass ihnen - anders als dem jüdischen Volk, dem sie sich im Schicksal verbunden fühlen - die Anerkennung versagt blieb. Erst nach etwa vier Jahrzehnten setzte sich in unserem Land die Erkenntnis durch, dass zu den Menschheitsverbrechen des Dritten Reiches nicht nur der Holocaust an den europäischen Juden gehörte, sondern auch die Vernichtung der Sinti und Roma sowie von Homosexuellen, Behinderten, Andersdenkenden, Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern.

Sehr geehrter Herr Rose, ich freue mich daher sehr, dass Sie heute wieder nach Bremerhaven gekommen sind, um mit uns die vom Dokumentations- und Kulturzentrum der Deutschen Sinti und Roma gestaltete Ausstellung zu eröffnen. Vor 15 Jahren, am 8. Dezember 1995, konnten wir Sie bereits einmal aus Anlass der Erinnerung an die NS-Opfer der Sinti und Roma begrüßen. Damals weihte die Stadt Bremerhaven die Gedenktafel an der Karlsburg, dem ehemaligen Polizeigefängnis, ein. „Wir gedenken der Toten und mahnen die Lebenden, Unmenschlichkeit und Rassismus entgegenzutreten", heißt es im letzten Satz der Inschrift. Wie alle anderen Städte, so hat auch Bremerhaven recht spät diese Mahntafel aufgestellt. Seither ist es für die Stadtverordnetenversammlung und den Magistrat jedoch eine historische Verpflichtung, alljährlich am 16. Dezember - dem Jahrestag des Himmler-Erlasses von 1942 - an diesem Ort der ermordeten Sinti und Roma zu gedenken.

Wir tun dies in dem Bewusstsein, dass die Vergangenheit nicht ruhen kann und darf, sondern das Wissen um die Verbrechen des NS-Staates an die Nachgeborenen weitergegeben werden muss. Die von den Nationalsozialisten betriebene totale Vernichtung, der Völkermord aus Rassenwahn, die Ermordung von Kindern ebenso wie von alten und hilfsbedürftigen Menschen - dieses ungeheuerliche Menschheitsverbrechen ist ein wesentlicher Teil der jüngsten deutschen Vergangenheit, die nicht „bewältigt" werden kann.

Die Vernichtung von 500.000 Sinti und Roma und sechs Millionen Juden - mit höchster bürokratischer und industrieller Perfektion betrieben - ist ein in der Geschichte der Menschheit einzigartiger Zivilisationsbruch, der sich jeder Gleichsetzung mit anderen Völkermorden entzieht. Es handelte sich nicht um einen blindwütigen Exzess und einen hasserfüllten Pogrom. Die Barbarei war das politische Programm der Nazis, das kaltblütig, kontrolliert und in aller Öffentlichkeit vollzogen wurde. Ihr erklärtes Ziel war es, ganze Völkergruppen „auszumerzen", wie es in der Sprache der Unmenschen hieß. Durch die Entrechtung, Verfolgung und Ermordung der Sinti und Roma sollte eine Kultur systematisch vernichtet werden, die seit 600 Jahren in Deutschland beheimatet war.

Es verlangt Erinnerung und Aufarbeitung, sich mit dieser Vergangenheit bewusst auseinanderzusetzen. Und dazu gehört, sich der Verantwortung für die Gegenwart zu stellen und aktiv allen unmenschlichen Bestrebungen entgegenzutreten. Der Völkermord an den Sinti und Roma darf nicht in Vergessenheit geraten. Diesem Ziel dient die Ausstellung, die von heute an hier in der Volkshochschule zu sehen ist. Vor allem jüngere Menschen müssen die Geschichte und die Kultur der Sinti und Roma kennenlernen, damit sie verstehen, dass die Angehörigen dieser Bevölkerungsgruppe keine Fremden sind. Sie gehören zu Deutschland und zu Europa.

Die Stadt Bremerhaven wird alles Erdenkliche dazu beitragen, das Gedenken an den Völkermord wachzuhalten und das Unrecht immer wieder anzuprangern. Stadtverordnetenversammlung und Magistrat werden sich dafür einsetzen, dass sich die Sinti - es sind rund 1000 Menschen - und Roma in unserer Stadt zu Hause fühlen. Dem Bremerhavener Sinti-Verein e. V. sichere ich im Namen der Stadt und auch ganz persönlich Unterstützung und Solidarität zu.

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