Rede von Oberbürgermeister Jörg Schulz bei der Jubiläumsfeier "50 Jahre Lebenshilfe"

Anrede,

„Wir in Bremerhaven": Wenn man in der Stadt unterwegs ist, so lässt sich dies als ein Wahlspruch der Lebenshilfe an vielen Stellen lesen. In den 50 Jahren ihres Bestehens hat die Ortsvereinigung Bremerhaven der Lebenshilfe ihren Beitrag zu diesem Motto umgesetzt: Sie hat anderen die Bedürfnisse von Menschen mit geistiger und mehrfacher Behinderung nahegebracht und diese aus der Stellung einer vermeintlichen Randgruppe dorthin gerückt, wo sie jeden Tag ihren Platz haben sollten: ins Zentrum der Gesellschaft.


Dazu war es erforderlich, den Bedürfnissen und Interessen behinderter Menschen erst einmal eine Stimme zu geben. War die Lebenshilfe in ihren Anfängen noch als Nachwirkung der dunklen Jahre, die hinter Deutschland lagen, mit der Frage des Lebensrechts befasst, entwickelte sich daraufhin der wirkliche Schwerpunkt Lebenshilfe. Die Beschäftigung mit der Versorgung behinderter Menschen stand dabei im Vordergrund.


Die Erfolge und strukturellen Veränderungen, die die Lebenshilfe im Bereich der Fürsorge begründen konnte, erlaubten einen Wandel im Denken: Das Ziel des selbstbestimmten Lebens steht heute in der Arbeit mit behinderten Menschen an erster Stelle. Dass dieser Gedanke der Teilhabe und Selbstbestimmung seine Verankerung in unserem Alltag gefunden hat, ist dem Einsatz der Lebenshilfe zu verdanken. Denn mit Angeboten wie dem Fahrradladen oder der Bäckerei mit Bistro sind nicht nur Arbeitsplätze geschaffen worden, die sich nahe an denen des ersten Arbeitsmarktes befinden - und das allein wäre schon eine beachtliche Errungenschaft. Standorte wie diese tragen auch dazu bei, dass behinderte und nicht-behinderte Menschen einander in einer alltäglichen Situation begegnen können. Eine Voraussetzung, die gar nicht hoch genug bewertet werden kann. Bietet sie doch für manche eine erste, vielleicht bislang einzige Gelegenheit, Barrieren zu überwinden und andere Perspektiven kennen zu lernen und zu akzeptieren.


Auf dem Weg zu einem selbstbestimmten, besseren Leben für Menschen mit Behinderungen kann die Politik nur die Bedingungen schaffen, in der Stadtplanung zum Beispiel oder bei Schulen und Kindergärten. Die Lebenshilfe Bremerhaven hat sich in den vergangenen 50 Jahren mit überaus erfreulichen Ergebnissen dafür eingesetzt, diesen Rahmen mit Inhalten, mit Leben und Erleben auszufüllen.


Die Lebenshilfe fordert an der Seite der behinderten Menschen, gleichberechtigt und solidarisch gemeinsam in einer Gesellschaft zu leben, die Menschen mit Behinderung ein Recht auf freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit lässt. Als Folge dieses unermüdlichen Engagements kann die Bundesvereinigung Lebenshilfe mittlerweile sogar stolz darauf sein, maßgeblichen Anteil an einer Änderung des Grundgesetzes der Bundesrepublik gehabt zu haben: 1994 wurde es erweitert um den Satz „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden".


Meine Damen und Herren, unablässig arbeitet Ihr Verband daran, die Rechte behinderter Menschen Wirklichkeit werden zu lassen. Als Selbsthilfevereinigung, als die sich die Lebenshilfe versteht, informieren Sie und koordinieren Hilfe, Sie ermutigen und unterstützen Angehörige bei ihrer Eigeninitiative. Menschen mit Handicaps werden von Ihnen gestärkt, Sie vermitteln ihnen Selbstbewusstsein und geben Mitsprachemöglichkeiten. Vor allem aber haben Sie vielen anderen nicht-behinderten Menschen immer wieder vor Augen geführt, dass es auf die Haltung jedes Einzelnen ankommt: Unsere Reaktion auf Behinderung bestimmt erst, wie behinderte Menschen gesehen werden und sich selbst sehen.


Sie haben nicht nachgelassen aufzuzeigen, dass Behinderung eine Art von Anders-Sein ist, die nicht zur Benachteiligung führen darf. Dass tatsächlich doch nur einzelne Fähigkeiten oder Teilbereiche eingeschränkt sind und nicht der gesamte Mensch. Und dass wir als so genannte Nicht-Behinderte vielleicht einmal einen Menschen mit einem definierten Handicap fragen sollten, was er unter „behindert" versteht. Denn auch das haben Sie uns bewusst gemacht: Dass wir von behinderten Menschen lernen können.


So hat die Lebenshilfe Brücken gebaut zwischen beiden Perspektiven. Sie haben uns zu neuen Einsichten verholfen, und deshalb sind wir Ihnen zu Dank verpflichtet.

Und wir sind froh über das, was Sie für alle Bürgerinnen und Bürger der Stadt erreicht haben, denn durch einen Unfall, durch Krankheit oder im Alter kann jeder eine Behinderung erfahren. Die Lebenshilfe Bremerhaven hat alle Menschen mitgenommen auf den Weg hin zu mehr Wertschätzung und Akzeptanz. Ohne diese Werte wäre die Gesellschaft für behinderte Menschen eine verarmte Gesellschaft. Dagegen haben Sie uns bereichert mit der Erkenntnis, dass im Mittelpunkt immer der Mensch stehen sollte mit all seinen Besonderheiten und Eigenarten, ob behindert oder nicht. Der Lebenshilfe Bremerhaven gratuliere ich herzlich zum 50-jährigen Bestehen und hoffe, dass Sie uns alle weiterhin so tatkräftig begleiten.

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