Mit der Kleinbahn durch die Marsch: Fünf Jahrzehnte Schienen-Geschichte leben im Süden der Stadt wieder auf

„Die Kleinbahn Farge übernimmt die Beförderung von Personen, Reisegepäck, lebenden Tieren und Gütern“ – so lautet der offizielle Text zur Eröffnung der Kleinbahn zwischen Bremerhaven und Farge am 2. August 1911. Eine wechselvolle Geschichte beginnt, geprägt von Kriegen und schweren Zeiten 38,3 Kilometer lang, 18 Stationen und irgendwie immer am ganz großen Erfolg vorbeigefahren: Die Niederweserbahn (NWB), wie sie ab 1949 hieß, ist ein Stück Zeitgeschichte des 20. Jahrhunderts.

Ihre Lokomotive, der „Feurige Elias“, gehörte einst zum Stadtbild im Süden Bremerhavens. Dort erinnert nicht nur der Kleinbahnweg an die Verkehrsverbindung, sondern lebt die Kleinbahn in der neuen Wartungshalle der Nordwestbahn wieder auf.

1,8 Millionen Mark kostet der Bau der Kleinbahn Farge-Wulsdorf damals, je zu einem Drittel bringen die Provinz Hannover, der preußische Staat und die 17 betroffenen Gemeinden die benötigten Mittel auf. Jede Station an der Strecke stellt dazu Einlagen zwischen 4000 und 45.000 Mark bereit, um eine Anbindung an die wichtige Schiene zu erhalten. Das gesamte Einzugsgebiet hat zu jener Zeit rund 11.000 Einwohner, die drei Unterweserstädte Lehe, Geestemünde und Bremerhaven bereits 75.000. Die Eisenbahn war am Anfang des 20. Jahrhunderts ein Zeichen von Fortschritt, Anschluss und Entwicklung, sie sollte Geestemünde an die Region anschließen.

So wunderschön war dieser Tag im September! Ein Leuchten sommerlicher Kraft und Glut lag über den gesegneten Gefilden durch die uns der Zug vom Haltepunkt Wulsdorf aus dem idyllischen Stotel zuführte…“ So zitiert die „Nordwestdeutsche Zeitung“ am 2. September 1911 aus der Eröffnungsfeier im „Grafenhof“ zu Stotel. Mindestens 20 Pfennig kostet jede Fahrt, 6 Pfennig pro Kilometer, Räder und Hunde 25 Pfennig. Vier Mal am Tag geht es in jede Richtung. 1912/1913 fahren im Schnitt bereits 430 Personen am Tag entlang des Ostufers der Weser, zum Teil direkt hinterm Deich.

Der Erste Weltkrieg und die Weimarer Republik
In Farge gibt es einen Anschluss an die Farge-Vegesacker Eisenbahn, in Wulsdorf an die Strecke Bremerhaven-Bremen. Die hohen Unterhaltskosten für die Entwässerung der Bahntrasse und niedrige Einnahmen machen die Kleinbahn jedoch nie zu einem besonders profitablen Geschäft. Der schon bald beginnende Erste Weltkrieg tut das Übrige. Bereits 1919 kommt es zu den ersten Stillegungsgerüchten um die Bahn. 1920 übernimmt das Landeskleinbahnamt Hannover die Betriebsführung, das Betriebsergebnis bleibt trotzdem fortwährend schlecht. Erst 1924 geht es, wenn auch nur kurz, aufwärts. Insgesamt fast 180.000 Tonnen Kies transportiert die Bahn für die Kaianlagen des Columbusbahnhof Bremerhaven zwischen 1924 und 1927.

Feuriger Elias
Dampflokomotiven und die mit ihnen verbundenen Züge haben in der Blütezeit des „Dampfrosses“ sehr schnell ihre Spitznamen weg. Das ist bei der Kleinbahn nicht anders, der „Feurige Elias“ befördert zu jener Zeit nicht nur Arbeiter, Waren und Schüler. An den Wochenenden reisen viele Badegäste an den aufgeschütteten Strand bei Sandstedt. Man fährt mit der zischenden, flötenden und dampfenden „Isenbahn“.

Der Zweite Weltkrieg
Bereits 1931 wird der Personenverkehr wieder eingestellt, dann kommt es sogar zum Teilabbau der Strecke. Die Bahntrasse führt nur noch von Wulsdorf bis Sandstedt, eine 50 km lange Buslinie ersetzt die Personentransporte. 35 Haltestellen werden drei Mal täglich in beide Richtungen von den neuen Omnibussen befahren. Im Zweiten Weltkrieg wird die Situation dann noch schwerer, Treibstoffrationierung raubt der noch bestehenden Strecke fast die Existenz. 1943 gibt es dann ganz plötzlich einen Ruck zurück auf die Schiene. Der Diesel ist zu teuer und schwerer zu beschaffen als Kohle, somit sorgt die Dampflok in Kriegszeiten für einen Aufschwung der kleinen Strecke in der Marsch.

Die Nachkriegszeit und das Ende auf Raten
In den Nachkriegsjahren transportiert die Kleinbahn vor allem Berufstätige und Schüler sowie unzählige Menschen, die versuchen sich auf dem Lande oder Schwarzmärkten mit dem Lebensnotwendigen zu versorgen. Von 1945 bis 1949 verdoppelt sich der Personenverkehr auf fast 750.000 Personen. Vor allem Armuts- und Heimatflüchtlinge sorgen für diese Rekordverkehre des Elends.

Knapp vier Monate vor Gründung der Bundesrepublik Deutschland 1949 ändert die Kleinbahn Farge-Wulsdorf ihren Namen in Niederweserbahn GmbH (NWB). Im gleichen Jahr beginnt die Umstellung auf Dieseltriebwagen auf der Strecke. 1955 wird der Dampfzugbetrieb dann komplett eingestellt. Die zunehmenden Individualverkehre und autofreundliche Entwicklungspolitik sorgen für eine stetig abnehmende Fahrgastzahl. Die wirtschaftliche Lage der Niederweserbahn verschlechtert sich von Jahr zu Jahr dramatisch. Am 26. September 1964 fährt der letzte bekranzte Triebwagen von Wulsdorf nach Sandstedt, die Niederweserbahn stellt ihren Betrieb endgültig ein.

Die Niederweserbahn hat ihre Spuren in Bremerhaven hinterlassen, sie war oft ein treuer Freund in der Not, trotzte Kriegen und Krisen und war letzen Endes aber doch ein Anachronismus. Als sie nach langen Jahren der Planung fertig gestellt wurde, hatte sie sich zu einem gewissen Grade schon überlebt. Und langfristig wurde sie ein Opfer einer Modernisierung, die dem Straßenverkehr zunehmend den Vorzug gab.

Noch heute sind Spuren zu finden: Fahren Sie doch einfach mal mit dem Fahrrad den Kleinbahnweg von der Wulsdorfer Bahnhofstraße in südlicher und westlicher Richtung. Es handelt sich um die ehemalige Bahntrasse, die in einem weitgeschwungenen Bogen zur Weserstraße führt. Dort, an der Einmündung hinter der Tränkestraße, befand sich die ehemalige Bahnstation Weserstraße, wo für einige Jahre auch ein Anschluss an die Straßenbahn bestand. Weiter entlang der Weserstraße geht es dann über die Rohr in Richtung Marsch.

Als Fügung des Schicksals könnte man es durchaus sehen, dass fast 100 Jahre nach Gründung der Bahn wieder Züge auf deren ehemaligen Betriebsgelände in Wulsdorf rollen werden. Die Nordwestbahn (NWB) errichtet auf dem Areal einen Wartungsstützpunkt für Elektrotriebwagen. Dass die Unternehmenskürzel der beiden Bahnunternehmen identisch sind, hat durchaus einen Charme, der an die gute alte Kleinbahn erinnert.   Marco Butzkus



Quellen:
Schütte, Ingrid, Werner Schütte: Die Niederweserbahn. Zur Verkehrsgeschichte zwischen Bremerhaven-Wulsdorf und Bremen-Farge. Lübbecke (Verlag Uhle & Kleimann), 1984.

Stadtarchiv Bremerhaven

Technik- und Verkehrsmuseum Stade