Gedenkveranstaltung zur Pogromnacht, 8. November 2019

Rede von Stadtrat Michael Frost zur Gedenkfeier am Synagogengedenkstein, Ludwigstraße

Es gilt das gesprochene Wort
Achtung: SPERRFRIST 8. November 2019, 14.00 Uhr

Anrede

Lassen Sie uns hier und heute gedenken an Walter (Jahrgang 1896) und Margot (Jahrgang 1911) Goldberger, die mit ihrer 1933 geborenen Tochter Ingeborg in der Hafenstraße 36 lebten. Walter Goldberger war eigentlich Kaufmann, doch seine Leidenschaft galt der Leichtathletik und später dem Motorsport – in beiden Disziplinen gelangte er zu internationalen Erfolgen. An sein und das Schicksal weiterer jüdischer deutscher Sportler erinnert derzeit eine Ausstellung im Deutschen Auswandererhaus. 1939 konnte Walter Goldberger, der damals im nationalsozialistischen Staat als Jude verfolgt wurde, zunächst nach Panama, dann in die USA fliehen. Sein Schwiegervater wähnte Tochter Margot und Enkelin Ingrid nicht in Gefahr, sie galten als Halbjüdinnen. Deshalb blieben sie bei ihm. Halbjüdin. „Jüdischer Mischling ersten Grades“. So lautete der von den Nationalsozialisten erfundene rechtliche Terminus. Am Anfang ist das Un-Wort. Eines, das Einzelne verletzt, eine Gesellschaft zersetzt, und am Ende diejenigen vernichtet, die mit ihm bezeichnet werden. Margot und Ingrid Goldberger waren als „Halbjüdinnen“ keineswegs in Sicherheit. Sie gehörten zu der Gruppe jüdischer Bremerhavenerinnen, die im November 1941 zusammengetrieben und über Bremen nach Minsk deportiert wurden, wo sie im Vernichtungslager ermordet wurden. Margot Goldberger wurde nur 30 Jahre alt, ihre Tochter Ingrid gerade einmal 8. Ich spreche heute als Vertreter des Magistrats anlässlich unseres gemeinsamen Gedenkens an die Bremerhavener Opfer der Shoah bereits im achten Jahr zu Ihnen. In einem der ersten Jahre wurde ich von einem Journalisten gefragt, ob diese Form ritualisierten Gedenkens aus heutiger Sicht überhaupt noch eine Bedeutung habe. Ich stand hier mit vielen, die ich auch heute wieder sehe, und der Großteil meiner Ansprache widmete sich in der Tat Vergangenem, nämlich der Betrachtung einer Biografie wie der der Goldbergers und dem Gedenken an die Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938. Die Ereignisse jener Nacht markieren keineswegs den Beginn der Verfolgung der jüdischen Bevölkerung, aber den spätestmöglichen Zeitpunkt, an dem alle sehen konnten, was der zur Staatsräson erklärte Antisemitismus bewirkt hatte – und wie seine Opfer der Willkür des Staates und des von ihm gesteuerten Mobs vollkommen schutzlos ausgeliefert wurden. Bei der Durchsicht meiner früheren Manuskripte habe ich festgestellt, dass sich der Fokus der Ansprachen von der Schilderung der Vergangenheit von Jahr zu Jahr immer weiter in die Auseinandersetzung mit der Gegenwart verschoben hat. Unser Gedenken ist von einer erschreckenden Aktualität, die wir lange nicht für möglich gehalten haben. Zur heutigen Veranstaltung haben viele Gruppierungen und auch die demokratischen Parteien aufgerufen, daran teilzunehmen und damit ein Zeichen zu setzen. Ich nehme deshalb Ihre Anwesenheit als Ausdruck der Versicherung für die Jüdinnen und Juden, nicht allein zu stehen, sondern sich dem Schutz des Staates und seiner Institutionen, der Stadt Bremerhaven und der Zivilgesellschaft sicher sein zu können. Nicht zuletzt durch den furchtbaren Anschlag von Halle ist diese Versicherung ein notwendiges Zeichen. Mit Ihrer Teilnahme heute signalisieren Sie aber auch, dass Sie der nach jedem rechtsextremen Anschlag, wie zuletzt in Halle, reflexhaft vorgetragenen Aussage über den „Einzeltäter“ nicht mehr trauen. Die offizielle Statistik spricht von 80 Menschen, die seit der Wiedervereinigung bis Ende 2018 Opfer rechtsextremistisch begründeter Gewalt wurden. Todesopfer, wohlgemerkt. Einer Recherche der ZEIT und des Tagesspiegels zufolge wurden tatsächlich doppelt so viele Menschen von rechtsextremen Mördern umgebracht. Und in diesem Jahr wurden wenigstens drei weitere Menschen Opfer rechtsextremer Mörder: Der Regierungspräsident von Kassel, Walter Lübcke, und Jana Lange und Kevin S. Am 9. Oktober in Halle.

Die Opfer: Geflüchtete, Deutsche mit und ohne Migrationshintergrund, Anwälte, Polizistinnen und Polizisten, Behinderte, Wohnungslose, Roma, Homosexuelle, Juden. 169 Einzelfälle[1]. Hinzu kommen die tagtäglichen Vorfälle der Diskriminierung, der Beleidigung und der Bedrohung, der Körperverletzung, die vor allem diejenigen erleiden, die nicht einer, ich betone das: imaginierten Norm von Deutschsein entsprechen. In seiner offiziellen Statistik über die Entwicklungen der Fallzahlen allein antisemitischer Hasskrimininalität listet das Bundesinnenministerium in dem Zeitraum von 2001 bis 2018 insgesamt 25.612 „Einzelfälle“[2] auf. Da ja vielfach behauptet wird, Antisemitismus sei vor allem unter Geflüchteten und Zugewanderten mit muslimischem Hintergrund verbreitet, sei auch hier auf die zitierte Statistik verwiesen: 5% der ermittelten Fälle können diesen Gruppen zugerechnet werden. Anders herum: 95% nicht. Der Historiker und ZEIT-Autor Christian Bangel schreibt: „Antisemitismus hat keine Hautfarbe und keine Religion, es gibt ihn unter Linken und unter Rechten, unter Arbeitslosen und unter Superreichen. Er ist die Geißel der menschlichen Zivilisation, seit Jahrtausenden. Der Versuch, (den Judenhass) zu ethnisieren und ihn damit weit weg von der weißen deutschen Bevölkerung zu halten, hilft niemandem außer der AfD.“[3] Die AFD. Die Partei, die eine „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“ (Höcke) fordert, stolz ist auf die Leistungen deutscher Soldaten in zwei Weltkriegen (Gauland), gegen „Kopftuchmädchen und alimentierte Messermänner“ (Weidel) hetzt und deren politische Spitzenvertreter bei einer Neonazi-Demo in Chemnitz mitmarschieren[4]. Und nun: Halle. Ich zitiere erneut Christian Bangel[5]: „Antisemitismus ist die Bereitschaft, die Juden als eine kollektiv handelnde Gruppe zu markieren, sie als Fremdkörper zu betrachten, der innerhalb einer Gesellschaft seine eigenen Ziele verfolgt und irgendwann den Niedergang der übrigen Gesellschaft auslöse. Genährt wird dieses Szenario von der Beschreibung der Juden als wurzellose, wohlhabende Kosmopoliten, denen Werte und Normen der Mehrheitsgesellschaft fremd sind. Beide Stereotypen kommen zusammen, wenn die AFD und ihre Anhänger von der demografischen Katastrophe sprechen, die der linke Feminismus ausgelöst habe und die nun handstreichartig durch arabische Massenzuwanderung gelöst werde, unterstützt von linken Bildungsbürgern, die nichts von den Normen und Werten des Normalbürgers wüssten.“ Nicht viel anderes, so Bangel, sagte ja auch der Täter von Halle, bevor er den Juden daran die Schuld gab und sie töten wollte.

Die Dämme zwischen den vermeintlichen Biedermännern und den Brandstiftern sind längst gebrochen. In Chemnitz und anderswo demonstrierten sie bereits gemeinsam. Attentäter beziehen sich in ihrer Begründung mehr oder weniger direkt auf die kruden Gedankenkonstrukte rechtsradikaler Parlamentarier. Wie zum Beweis meldete sich nach dem Massaker von Halle einer ihrer Abgeordneten mit einem entlarvenden Statement. „Was ist schlimmer“, fragte der sächsische AFD-Landtagsabgeordnete Roland Ulbrich, „was ist schlimmer, eine beschädigte Synagogentür oder zwei getötete Deutsche?“[6] Was diese Aussage suggeriert: Verharmlosung des versuchten Massenmords als Sachbeschädigung einerseits, und andererseits die Zersetzung der Gesellschaft durch das Wort: hier die Deutschen, dort die Juden. Seit Jahren sprechen Gauland und Höcke von einem so genannten geplanten „Bevölkerungsaustausch“, für den sie insbesondere die Bundeskanzlerin verantwortlich machen. Höcke warnt in seinem 2018 erschienen Buch vor dem „Volkstod durch Bevölkerungstod“[7]. Auch wenn führende AFD-Politiker sich beeilten, den Anschlag von Halle öffentlich zu verurteilen, gilt: Ihre politischen Kampagnen können überhaupt gar nicht verfangen, ohne sich antisemitischer Stereotype zu bedienen und sie weiter zu verbreiten. Ziel dieser manchmal schleichenden, manchmal lauten Kampagne ist „die Produktion einer Spaltung zwischen ‚uns‘ und ‚ihnen‘ innerhalb einer Bevölkerung, also darum, wie ‚Fremde‘ überhaupt erst erzeugt und mit bestimmten Eigenschaften belegt werden.“[8] So der Psychologe und Migrationsforscher Mark Terkessidis.

Genug geredet. Alles Wissen liegt vor uns. In Thüringen wurde die AFD mit nahezu einem Viertel der abgegebenen Stimmen zur zweitstärksten Partei, in gut einem Dutzend der Wahlkreise wurde sie gar stärkste Partei. Machen wir uns nicht länger etwas vor. Sie erzielte dieses Ergebnis nicht trotz, sondern wegen ihres Spitzenkandidaten Höcke, der nicht widerspricht, wenn er, wie noch am Wahlabend in einer Diskussion der Spitzenkandidaten, von der Vertreterin der Grünen als Faschist bezeichnet wird. [9] Was wir hier erleben ist, so hat es Sina Arnold vom Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin ausgedrückt, was wir erleben ist, „dass es allgemeine Tendenzen des Zerfalls der demokratischen Kultur oder der Öffentlichkeit gibt – nicht nur in Bezug auf das Thema Antisemitismus. Es geht auch um eine gesamtgesellschaftliche Verrohung und Angriffe gegenüber anderen gesellschaftlichen Minderheiten. Da sind auch hohe Ressentiments gegenüber Muslimen, gegenüber Roma und Sinti erfasst. Vielleicht lässt diese Art des Zerfalls erstmal aufhorchen, denn wir wissen, dass der Holocaust nur das Ende von einer langen Entwicklung der gesellschaftlichen Ausgrenzung und Verrohung war.“[10] Das eigentlich Bedrohliche der Situation ist, dass antisemitische und damit auch eindeutig rassistische Meinungen und Haltungen nicht nur ein Phänomen der unteren sozialen Schichten und abstiegsverängstigter, abgehängter Wutbürger sind. Er betrifft auch die gesellschaftlichen Eliten, das Bildungs- und Wirtschaftsbürgertum.[11] Diesen Befund bestätigt jüngst eine Repräsentativumfrage des jüdischen Weltkongresses, die lange vor dem Attentat von Halle durchgeführt wurde: Danach nimmt der Antisemitismus in Deutschland zu: Derzeit denke jeder vierte Deutsche antisemitisch, 41 Prozent der Deutschen seien der Meinung, Juden redeten zu viel über den Holocaust.[12] Wenn in Deutschland in einer Synagoge zum Gebet versammelte Menschen sich in Schutzräume zurückziehen müssen, weil bewaffnete Rechtsextreme in der Absicht eines Massenmordes versuchen, sich mit Sprengstoff Zugang zu verschaffen, dann sind wir über die Anfänge, denen es doch zu wehren galt, weit hinaus. Für viele gilt es bereits, sich Angriffen auf Leib und Leben zu erwehren.

Deshalb ist vor allem denen, die immer noch kokettieren, taktieren, paktieren oder schon Mehrheitsbildungen berechnen, deutlich zu entgegnen: Die rote Linie ist bereits überschritten. Nach dem Thüringer Wahlergebnis sprach Björn Höcke von der „erschlafften Demokratie“[13]. Ich bin sicher, dass die AFD das weniger als Gefahr, sondern vielmehr als große Chance für sich erkennt. Lassen Sie uns deshalb hier in Bremerhaven zusammenstehen – unabhängig von Religion und Weltanschauung, Herkunft, politischer Überzeugung und sozialem Status, als Bürgerinnen und Bürger dieser Stadt – lassen Sie uns gemeinsam Haltung zeigen, als Verteidigerinnen und Verteidiger einer starken und wehrhaften Demokratie, die die Schwachen schützt und sich der Zersetzung unserer Werte und Normen widersetzt. Und lassen wir es nicht zu, wenn wir in unserem Umfeld antisemitische oder rassistische Bemerkungen hören: Dann müssen wir widersprechen, einschreiten, erklären und aufklären. Unabhängig von unseren politischen Zugehörigkeiten teilen wir die Ideale einer freiheitlichen Gesellschaft auf der Grundlage der Selbstbestimmung des und der Einzelnen und gegenseitiger Achtung und Anerkennung. Das ist unser gemeinsames Verständnis von einem Deutschland in einem freiheitlichen und vielfältigen Europa, das wir uns nicht nehmen lassen werden. Deshalb bekennen wir an diesem Jahrestag des Pogroms in unserer Trauer um Walter, Margot und Ingrid Goldberger, die stellvertretend stehen für die millionenfachen Verbrechen des nationalsozialistischen Terrors und der Shoah, deshalb bekennen wir uns zu unserer Verantwortung dafür, dass die Geschichte sich nicht wiederholt:

Kein Millimeter nach rechts.

Text: Michael Frost
Recherche: Volker Heigenmooser / Michael Frost

 

[1] https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2018-09/rechtsextremismus-gewaltpotenzial-deutschland-todesopfer-rechte-gewalt

[2] https://www.zeit.de/gesellschaft/2019-10/antisemitismus-anschlag-halle-rechtsextremismus-rechte-gewalt-kriminalitaet

[3] Christian Bangel: Das Fanal von Halle. Der neue, alte Antisemitismus. Blätter für deutsche und internationale Politik 11/2019 S. 13ff.

[4] https://www.focus.de/politik/deutschland/kommentar-die-reaktion-auf-den-halle-anschlag-zeigt-das-glaubwuerdigkeits-problem-der-afd_id_11224978.html

[5] Bangel, a.a.O.

[6] https://www.tagesspiegel.de/politik/nach-rechtsextremem-terror-in-halle-afd-politiker-nennt-angriff-auf-synagoge-sachbeschaedigung/25117664.html

[7] https://www.swr.de/report/gefaehrliche-verschwoerungstheorien-wer-verbreitet-die-ideologie-der-attentaeter-von-christchurch-und-el-paso-in-deutschland/-/id=233454/did=24392854/nid=233454/okml6p/index.html

[8] Mark Terkessidis, Mit Interkultur gegen Rassismus, Blätter 2/12, S. 63f

[9] https://www.merkur.de/politik/bjoern-hoecke-im-tv-faschist-genannt-reaktion-ist-ueberraschend-zr-13173491.html

[10] Sina Arnold vom Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin, https://www.ndr.de/kultur/Antisemitismus-in-Deutschland-Fallende-Tabus,journal2168.html

[11] Vgl. https://www.huffingtonpost.de/entry/wohlhabend-gebildet-und-trotzdem-afd-deutschlands-elite-ruckt-nach-rechts_de_5abf4131e4b0a47437ab2741

[12] Vgl. https://www.ndr.de/kultur/Antisemitismus-in-Deutschland-Fallende-Tabus,journal2168.html

[13] ebenda

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