Die Amerikaner in Bremerhaven: Teil 6 - Die Gebäude (the buildings)

Alte Gebäude sind Vermächtnisse vergangener Epochen. Diese Zeitzeugen aus Stein, Stahl und Beton haben jedoch einen entscheidenden Nachteil - Sie sind stumm. Alleine unsere Erinnerungen erfüllen diese Bauwerke mit Leben. In den Jahren 1945 bis 1993 waren viele Bauwerke Bremerhavens in der Verwendung der Amerikaner. Ein paar dieser Gebäude existieren heute nicht mehr, einige von ihnen stehen noch und halten ihre Geschichten im Verborgenen. Antje Cramer, die unter Amerikanern aufwuchs, nimmt uns mit auf eine spannende Reise zu diesen Häusern. Angie lüftet für uns deren Geheimnisse und erzählt uns deren – und ihre eigene – Geschichte.

Unsere Geschichte beginnt 1947. Antje, die im Fortlauf der Geschichte nur noch „Angie“ genannt wird (warum erklären wir später), ist ungefähr fünf Jahre alt. Das kleine, rotblonde Mädchen wohnt in einem Haus an der Ecke Hafenstraße und Birkenallee. Heute würde Angie dieses Gebäude kaum mehr erkennen. Dort wo früher ihr Bett stand, mieten Menschen jetzt künstliches Sonnenlicht im Minutentakt. Gleich nebenan in der Hafenstraße 34- 36, steht ein Häuserblock, der in jenen Tagen durch Amerikaner besetzt war. Hier lebten einst Soldaten – meist Offiziere - und Zivilangehörige der damaligen Besatzer mit ihren Familien.

Die Zeiten nach dem Krieg waren überall hart - so auch hier in Bremerhaven. Die Amerikaner im Nebenhaus führten jedoch ein Leben im Überfluss, Hunger und Not gab es auf ihrer Seite der Straße nicht. Angie und ihre Familie kamen gerade aus dem benachbarten Sievern zurück, wo sie behelfsweise auf einem Bauernhof untergekommen waren. Wie so viele Familien jener Tage waren auch sie ausgebombt worden.

Das kleine, rotblonde Mädchen findet sehr schnell einen Freund in der neuen Nachbarschaft - Billy Brophy. Sein Vater ist bei der US-Army beschäftigt und er, wie auch seine Frau, schließen die kleine Angie ganz schnell in ihr Herz. Das kleine Mädchen verbringt viel Zeit bei den Brophys, darf dort essen und darf sogar die Speisereste, die sauber in braune Papiertüten verpackt werden, für Ihre Eltern und Ihren Bruder mit nach Hause nehmen.

Nur einen kleinen Steinwurf von hier entfernt, am Freigebiet, befindet sich Bremerhavens amerikanisches Zentrum dieser Zeit. In einem imposanten Bogenbau hat die Army ihr Hauptquartier untergebracht. An dessen Rückseite befindet sich der Offiziersklub – der Casino Club und der amerikanische Supermarkt – die PX. Im Garten des Casino Club spielt man bei gutem Wetter Cricket oder Tennis und genießt die Vorzüge der höheren militärischen Dienstränge mit seiner Familie. Angie steht staunend vor der Tür bis Besucher sie beherzt mit hinein nehmen. An diesem Ort schmeckt die 5-Jährige zum ersten Mal in ihrem Leben Schokolade und Eiscreme. Der Casino Club in der Wiener Straße 1 wird zu Angies eigenem Eldorado und die Amerikaner zu ihren Freunden.

Einer dieser Freunde heißt Tony Oldanie, der immer nur „Champ“ genannt wird. Champ ist von 1947 bis 1967 der Chef von den Coldstores – den Kühlhäusern im Hafen. Er bringt Carepakete aus Amerika von den Schiffen mit, die dort gesammelt wurden. In den Paketen befindet sich meistens Kleidung, aber auch Schokolade und Süßigkeiten. Der charismatische Mann verteilt die Güter an die Kriegskinder in den Waisenhäusern sowie an der Hohen Wurth, am Südende der kriegsgeschundenen Stadt. Angie begleitet ihn oft auf seiner Tour mit seinem schicken Auto. Sie und ihr Bruder bekommen von ihm ihr erstes Paar Schuhe – bis dahin tragen sie Holzschuhe. Auch die erste Jeanshose gibt’s von Champ Oldanie, der immer eine Zigarre in seinem Mundwinkel hat und so etwas wie die Mutter Theresa der Bremerhavener Waisenkinder ist.

Die PX, an der Wiener Straße, ist nach dem Krieg ein Ort der unvorstellbaren Herrlichkeit für die Menschen dieser Ära. Supermärkte gibt es noch nicht und die PX ist ein Kaufhaus, in dem man alles, von Kleidung über Elektronik bis hin zu Lebensmitteln, in Hülle und Fülle bekommt. Allerdings kommt man hier nur rein, wenn man einen US-Pass hat oder in amerikanischer Begleitung ist. Angie hat dieses Privileg. Die Familie Brophy nimmt sie zu ihren Einkäufen mit an diesen Ort, der so anders riecht und an dem die Süßigkeiten – die Candys – in den Regalen locken.

Das kleine Mädchen, das eigentlich Antje heißt und ihrer Haarfarbe wegen „Red“(rot) oder „Rusty“(rostig) gerufen wird, heißt nun „Angie“. Ihr richtiger Name verursacht in der amerikanischen Aussprache Zungenkrämpfe, somit wird das Problem ganz amerikanisch gelöst - mit einem neuen Namen. Mittlerweile ist Angie jeden Tag bei der Familie Brophy, lernt dort Englisch und wird sogar fast von ihnen adoptiert. In ihrem Elternhaus muss sie Deutsch sprechen – was ihr im zunehmenden Maße missfällt.

Die Reise geht weiter - wir sind am Roten Sand angekommen. Direkt neben einer Marinekaserne befindet sich ein kleiner, unscheinbarer Flachbau - eine Turnhalle. Hier richten die Amerikaner 1950 die ersten Weihnachtsfeste für deutsche Kinder aus. An diesem Ort gab es Pudelmützen, Handschuhe aber auch Spielzeug. Vor allem aber gab es Kakao und Kuchen - mit Schokolade öffnet man Kinderherzen, damals wie heute.

Wir machen nun einen Zeitsprung. Angie ist 13 Jahre alt und geht für 7 Monate, als Haushälterin und Kindermädchen, zu einer amerikanischen Familie in das damals ganz neue Blinkviertel. Ein harter Job, ganz ohne Zweifel. Jeden Tag muss das Parkett in den großzügigen amerikanischen Wohnräumen geschrubbt werden und es gilt 6 Kinder zu versorgen. Angie hat ihr eigenes Zimmer unter dem Dach. Sie kauft sich vom ersten selbst verdienten Geld einen Rock und dann einen Ledermantel – auf Raten.

Das Blinkviertel ist eine ganz eigene amerikanische Welt, fast wie eine eigene Stadt. Es gibt hier ein eigenes Krankenhaus, eine Schule und einen Bus-Pendeldienst von und zur Carl-Schurz-Kaserne. Angie bekommt „Dog-Tags“ verpasst - kleine Metallplaketten an einer Kette, ganz ähnlich denen, die Soldaten um ihren Hals tragen. Wenn man die begehrten Anhänger hatte, durfte man umsonst mit dem Bus in die Kaserne fahren und dort ins Kino oder Bowling spielen gehen.

Angie entscheidet sich dennoch dafür einen Beruf zu lernen – Friseurin. Sie zieht wieder zurück zu ihren Eltern. Inzwischen wohnt man in der Scharnhorststraße beim Waldemar-Becké-Platz. Direkt daneben steht das Dependents-Hotel. Ein Hotel für US-Streitkräfte und deren Angehörige, am Roten Sand. Der rote Klinkerbau, der von dem berühmten Bremer Architekten Hans Scharoun an der alten Kaiserstraße geplant wurde, gehört zu den modernsten Wohnhäusern dieser Zeit. Später, als die Kaiserstraße zur Bürgermeister-Smidt-Straße umbenannt wird, erhält das Dependents-Hotel die Adresse „Bürger“ 240- 254.

Es kommt, wie es kommen muss - die junge Frau verliebt sich in einen Amerikaner. Die beiden treffen sich in der Burgerbar des US-Hotels. Es gibt Cheeseburger und Coke gegen Dollars und Träume für lau obendrauf. In Kuba kriselt es gewaltig und die schwerste Sturmflut der Neuzeit legt ganz Hamburg lahm. Man hört Elvis Presley, Chubby Checker und die Beatles. Angie und ihr Freund entscheiden sich dazu, zusammen nach Amerika zu gehen, wenn seine Zeit in Bremerhaven vorbei ist. Sie verloben sich, schmieden feste Pläne für die Zukunft. Die Eltern ihres Verlobten müssen für Angie bürgen, damit sie ins Land gelassen wird. Sie wird zuvor von den US-Behörden bezüglich ihrer Vergangenheit und derer ihrer Familie genauestens durchleuchtet

Ihr zukünftiger Mann reist vor, um alles Notwendige zu organisieren. In dieser Zeit sind Briefe die einzige Kontaktmöglichkeit der Liebenden. Alles scheint in trockenen Tüchern - dann folgt der Schock: Angie erhält einen Brief ihrer Schwiegereltern in spe. Ihr Verlobter sei ums Leben gekommen – Angies Welt zerbricht. Viele Jahre später wird die Frau erfahren, dass es sich um ein geschicktes Ränkespiel der Eltern ihres Verlobten handelt. Sie sind nicht damit einverstanden, dass ihr Sohn eine deutsche Frau heiratet. Während sie nach außen hin vorgeben, als bemühten sie sich um Angies Einbürgerung, fangen sie in Wirklichkeit Briefe ab und trennten die Beiden auf ganz subtile Art voneinander. Als sie den Brief erhält, weiß Angie das noch nicht. Der gemeinsame Weg mit den Amerikanern endet – vorübergehend.

Der nächste Zeitsprung führt uns in das Jahr 1974. Sämtliche US-Einrichtungen sind inzwischen komplett in der Carl-Schurz-Kaserne zusammen gezogen. Angie ist verheiratet – mit einem Deutschen. Sie hat einen Sohn und arbeitet ihrer guten Englischkenntnisse wegen im United Seamens Service - dem Seamens Club an der Fritz-Reuter-Straße. Seeleute aus aller Welt kommen hier her, um zu trinken, zu essen und zu feiern. Zum Publikum gehören aber ebenso die US-Soldaten und ihre Angehörigen. Die Gäste stehen in 6er-Reihen um den Tresen. An der Tür gibt es eine Zugangskontrolle und es wird gefeiert, was das Zeug hält. Im Anschluss geht es oft noch mit einigen Soldaten in den legendären NCO-Club - den Northern Lights Club, in der Kaserne. Gleich hinter dem Check Point, gegenüber dem Gebäude 6 in dem die MP (Military Police) untergebracht ist, gibt es Livemusik und Country-Lifestyle ohne Ende.

Der Seamens Club wird noch heute betrieben und hat sich seit den 1980er Jahren kaum verändert. Angie hat hier 30 Jahre lang gearbeitet und viele, noch immer wehrende Freundschaften geschlossen. Jedes Jahr fliegt sie in die USA und besucht dort Freunde, die sie hier im Club kennengelernt hat. Ihre erste amerikanische Familie, die Brophys hat sie aus den Augen verloren. Ihr Verlobter von einst lebt inzwischen wirklich nicht mehr. Angie hat noch immer viele greifbare Erinnerungen an die Zeit im Birkenweg und das Dependents-Hotel. Ihre „Dog Tags“ hat sie bis heute aufbewahrt - wie eine Art Ticket in die Vergangenheit. Wann immer Angie diese Plaketten in der Hand hält, füllen sich die alten Gebäude um sie herum wieder mit amerikanischen Geschichten. Geschichten, in deren Mittelpunkt ein kleines rothaariges Mädchen steht.   Marco Butzkus

Für diesen Artikel wurden folgende Schlagworte vergeben