Die Amerikaner in Bremerhaven: Teil 4 - Die Deutsch-Amerikaner (the germaricans)

Stellen Sie sich mal vor, Sie wollen Hawaii und bekommen Bremerhaven. Statt Sonne, Palmen und Pazifik gibt’s Küsten-Himmel, deutsche Eiche und Weserwasser. Diesem Schock sieht sich 1983 der 11-jährige Tom gegenüber, der als Sohn eines amerikanischen GI´s mit seiner Familie in die Seestadt kommt. Seiner amerikanischen Kultur beraubt, hat er fortan nur noch ein Ziel: So schnell wie möglich weg von hier. Aus dem Kind von damals ist heute Dr. Thomas Brin geworden – fest verwurzelt mit seiner Familie in Bremerhaven. Und in Amerika ist er bis heute nicht wieder gewesen.

"Wenn dein Dad Soldat ist, dann wächst Du auf Militärstützpunkten der US-Army auf“, sagt Tom. Wir sitzen am Esstisch seines Hauses. Tom ist fast zwei Meter groß, schlank, hat raspelkurze Haare und schaut mich lächelnd an. Er hat vier Geschwister – alle wurden woanders geboren. Würzburg, Nürnberg, Erlangen – nur Tom selbst erblickt in „Fort Benning“ im US-Bundesstaat Georgia das Licht der Welt. Fortan geht es mit den Militär-Versetzungen des Vaters von einer Kaserne zur nächsten, im Schnitt so alle 3 Jahre. Bevor Tom 1983 in Bremerhaven landet, war er bereits in Würzburg, Nürnberg, „Fort Meade“ Maryland und „Fort Bliss“ in Texas. Dann soll sein Dad vor dem Ruhestand ein allerletztes Mal versetzt werden – und die Order lauteten Hawaii. „Üblicherweise darf man der letzten Order, zu der man versetzt wird, widersprechen – und diesem Wunsch wird dann auch nachgekommen“, sagt Tom mit felsenfester Miene. „Für uns Kinder war allerdings völlig klar, es wird Hawaii. Warum sollte man einer Order ins Paradies widersprechen?“.

Toms Dad entscheidet dann aber anders und setzte seine Familie vor vollendete Tatsachen. Die Absicherung seiner 7-köpfigen Familie im Hinterkopf, wählt er Bremerhaven. Dort leben auch die Eltern seiner Frau. Der amerikanische Stützpunkt in Norddeutschland hat ein sehr ausgeprägtes US-Umfeld. Als der 11-jährige Tom davon erfährt, bricht für ihn eine Welt zusammen. Sofort greift er sich einen Atlas, um nach der fremden Stadt zu suchen – und findet sie mit dem Zeigefinger: „Ich weiß noch, dass Bremerhaven ganz oben am Meer lag und in Richtung Amerika war England das nächste größere Stück Land auf der Karte.“

Tom erinnert sich auch heute noch genau an seine erste Begegnung mit Bremerhaven. Ein kalter, regnerischer Oktobertag. Der Zug aus Frankfurt trifft am Hauptbahnhof ein. Bremerhaven ist alles – nur nicht Hawaii. „Mein einziger Trost war bis dahin, dass es auch hier Wasser gab. Ich hatte ein klares Bild von kristallklarem Wasser und goldenen Stränden vor Augen“, erzählt Tom. „Dann habe ich zum ersten Mal über den Deich am Columbus Center gesehen und dachte, ich bekomme vor Schreck einen Herzinfarkt: eine braune Fluss-Brühe und schlammiges Watt. Zu allem Überfluss sah ich auch noch das Kronos Werk in Blexen, erinnerte mich an meinen Blick in den Atlas und dachte – Shit, England!“ Er schüttelt schmunzelnd den Kopf. „Ich dachte, das wäre alles sehr klein hier und tatsächlich, die Weser wäre die Nordsee.“

Die erste Wohnstation war bei den Großeltern in einer Zollsiedlung im Schierholzgebiet. „Mein Deutsch war damals sehr schlecht“, sagt der heute 39 jährige. „Ich kann mich noch daran erinnern, dass mein Grandpa mir die ganzen Nachbarn vorstellte. Er sagte dann: Das ist Onkel Müller, der wohnt hier oder das hier ist Tante Meier, die wohnt da. Und ich dachte nur –Wow! – Was für eine riesige Familie ich habe. Ich hatte das so verstanden, dass in der ganzen Straße nur seine Kinder – also meine Tanten und Onkel wohnen“, lacht Tom. Aber in dem Moment damals war ihm überhaupt nicht zum Lachen zumute. Er fühlte sich betrogen, belogen und war sehr wütend.

In der ersten Zeit hatte Tom kaum Kontakt zu Deutschen. Er ging auf die amerikanische Schule und seine Freizeit verbrachte der sportbegeisterte Jugendliche in der Carl-Schurtz-Kaserne im Stadtteil Weddewarden. „Da gab‘s eine komplette US-Community mit Sport- und Freizeitanlagen“, schwärmt er noch heute. Aus dem Engenmoor-Viertel, wo die Familie inzwischen eine Wohnung bezogen hat, fahren kostenlos Busse im Halbstunden-Takt dorthin. Tom spielt viel Football und Baseball. Dem Soldatensohn ist klar – er wird Pilot oder Arzt bei der Army. Er muss nur die Zeit rumbekommen, bis er 18 Jahre alt ist.

Der nächste Tiefschlag lässt jedoch nicht lange auf sich warten. Sein Dad wird altersbedingt aus der Armee entlassen und Tom kommt nicht – wie eigentlich geplant - auf die US-Highschool in Osterholz, sondern auf eine deutsche Schule. Damit er besser Deutsch lernt, wie seine Eltern sagen. Heute weiß er, dass sein Schulbesuch auf der Highschool 25.000 US-Dollar jährlich gekostet hätte, weil sein Vater kein aktiver Soldat mehr war. „Das konnten meine Eltern sich einfach nicht leisten – no way - wir waren fünf schulpflichtige Kinder“, unterstreicht Tom. „Damals aber wusste ich das nicht. Meine Welt stürzte ein weiteres Mal ein. Ich fühlte mich abgeschoben und verraten“, erinnert er sich bitter.

Und der junge Tom greift zu seinem letzten Mittel – zivilem Ungehorsam. Der intelligente und wissbegierige Junge bringt es mit Vorsatz auf einen Notendurchschnitt von 5,5. Nur in Englisch – seiner Muttersprache – wollen ihm die Lehrer wohl keine 6 geben. „Ich dachte, wenn ich schlecht genug bin, komme ich zurück auf die US-Schule, zu meinen Freunden und meiner Footballmannschaft – den „Black Hawks“, zuckt Tom mit den Schultern.

Nach wie vor behält er aber sein Ziel vor Augen: 18 Jahre alt werden und zur Armee gehen. Doch dann kommt es anders. Mit 16 kommt er aus der Schule. Da fehlen zwei Jahre bis zur Militärtauglichkeit. Also fängt er eine Ausbildung zum Krankenpfleger im Bremerhavener St.-Joseph-Hospital an – als Übergang, denkt Tom. Doch dann passiert etwas, womit er nicht gerechnet hat: Er lernt seine erste Frau kennen. Die Wut in seinem Herzen weicht der Liebe. Der Soldatensohn in ihm kommt wieder durch. Verantwortungsbewusstsein und Disziplin übernehmen das Ruder – und es folgt eine wahre Bilderbuchkarriere.

Früh erkennt Tom, dass ihn die Medizin interessiert. Als Mensch mit zwei Staatsbürgerschaften muss er nach der Ausbildung zum Wehrdienst bei der Bundeswehr. Er arbeitet in der Sanitätsstation und geht nach dem Bund zur Abendschule. Zielstrebig macht Tom das Abitur als Grundlage fürs Studium, nebenher arbeitet er als OP-Pfleger im JoHo. Dann geht alles Schlag auf Schlag, Tom studiert in Hannover Medizin, kommt als Arzt zurück an das St.-Joseph-Hospital. Er nimmt jeden OP-Dienst, den er bekommen kann. Bildet sich ständig fort, macht seinen Doktor und ist heute – mit 39 Jahren – Oberarzt. „Viel weiter kann es nicht mehr gehen“, sagt er stolz. „Der Hauptschüler, der zum Doktor der Chirurgie wurde“. Tom ist zum zweiten Mal verheiratet, hat zwei Kinder, ein Haus in Bremerhaven – ganz in der Nähe der alten Zollsiedlung seiner Großeltern - und wird in Kürze die Chirurgie eines Medizinischen Versorgungszentrums im StadtteilWulsdorf leiten.

Amerika hat er nicht vergessen. Er betrachtet das Thema heute nur etwas differenzierter. Er wählt nicht – obwohl er das als Bürger mit einem US-Pass tun dürfte. Der größte Teil seiner Familie lebt hier in Bremerhaven, sein Dad natürlich auch. Traditionell weht vor dessen Haus sogar auch die US-Flagge. Nur der amerikanische Unabhängigkeitstag oder Thanksgiving – das Erntedankfest – werden nicht mehr im ganz großem Stil gefeiert.

Eigentlich lebt Dr. Tom jetzt zwei Kulturen. Immer wenn er mit seinem Bruder Ricky zusammen ist, dann ist er Amerikaner. „Dann reden wir auch nur englisch miteinander“, sagt er. Eine wirkliche US-Kultur sieht er in Bremerhaven nur noch im „U.S.S. Seamens Club“. Den Club in der Potsdamer Straße, in dem englisch gesprochen und in Dollar gezahlt wird, gibt es hier schon ewig. Dort ist Tom hin und wieder mit seinem Bruder, um als „Amerikaner“ ein richtiges Steak zu essen. Im täglichen Leben, auf der Arbeit und bei seiner Frau und den Kindern ist er deutsch.

Auch wenn Tom, der „Germarican“, sich heute nicht mehr ständig als Amerikaner fühlt - seinen US-Pass würde er niemals abgeben. Er hat noch Verwandte in New York und Florida, war allerdings seit 1984 nicht mehr in den Staaten. Wenn er heute mit seiner Familie Urlaub macht, dann lieber in der Karibik. Seine militärischen Wurzeln sind aber noch immer vorhanden. Er ist konsequent in dem, was er tut. Ehre ist für ihn nicht nur ein Wort und ein Versprechen gibt er niemals leichtfertig. Es bedeutet ihm etwas. Aus dem zornigen Jungen, der nach Hawaii wollte, ist ein anerkannter Akademiker mit einer guten Reputation geworden. Wenn man so will: Ein Selfmademan „Made in Bremerhaven“. Marco Butzkus

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