Attentat missglückt in Bremerhaven - erste Zeitbombe der Welt erschüttert 1875 die Stadt

Es ist ein wunderschöner Wintermorgen. Der Frost hat das Wasser der Weser träge werden lassen, Eisschollen schichten sich an den Ufern des Flusses übereinander. An der Mole stehen unzählige Menschen um Auswanderer zu verabschieden, die in die Neue Welt aufbrechen. Es ist der 11. Dezember 1875 und viele von ihnen werden das nahe Weihnachtsfest nicht mehr erleben. Denn die junge Hafenstadt wird an diesem Tag durch die „Thomas-Katastrophe“ zum Schauplatz eines abscheulichen Verbrechens: Das erste geplante Zeitbombenattentat der Welt wird 83 Menschen das Leben kosten.

An der Kaje herrscht wie gewohnt ein geschäftiges Treiben. Ein Schiff kommt aus der Schleuse und hunderte Zuschauer stehen am Südkai. Sie winken und rufen den Passagieren an der Reling zu, träumen davon, einmal selbst an Bord eines solchen Schiffes in die weite Welt hinaus zu fahren. Die „Mosel“ ist ein Auswandererschiff von fast 108 Metern Länge. An Bord hoffen 576 Passagiere auf eine ruhige Überfahrt nach Amerika. An der Kaje wird der Dampfer abschließend beladen. Ein letztes unhandliches Fass soll noch per Kran an Bord gehievt werden - dann kann es losgehen in Richtung Amerika.

In einer der Kabinen an Bord sitzt ein nervöser Mann. Er ist 45 Jahre alt, hat rötlich-blondes Haar, ist von mittlerer Größe und stark übergewichtig. Der Kanadier lebt schon seit elf Jahre in Dresden, ist dort verheiratet und Vater von vier Kindern. Ein bürgerliches Leben – aberder freundliche Mann mit der hohen Stirn, der goldenen Brille und dem buschigen Vollbart ist ein wirklicher Wolf im Schafspelz. Mit viel Kalkül und eiskalter Berechnung hat er geplant die Menschen an Bord in den Tod zu schicken. Die „Mosel“ soll in den Fluten des Nordatlantiks versinken - mitsamt einer wertlosen Fracht, die er hochversichert hat.

William King Thomas – mit richtigem Namen Keith Alexander - stammt eigentlich aus Halifax in Kanada. Er führt einen sehr aufwändigen Lebensstil, den er durch halbseidene Geschäfte finanziert. Im amerikanischen Bürgerkrieg ist er als Kapitän eines Blockadebrechers unterwegs, flüchtet später nach Europa. Sein Vermögen verliert er durch Glücksspiel und Spekulation. Dann hat er die Idee: Mit Hilfe eines Versicherungsbetruges - dem ersten Zeitbombenattentat auf hoher See - will Thomas seine Geldsorgen mit einem "Schlag" aus der Welt schaffen.

Mit viel List und Tücke kann Thomas einen Turmuhrfabrikanten aus Bernburg an der Saale überzeugen, ihm ein ganz besonderes Uhrwerk zu bauen. Es müsse 10 Tage lang geräuschlos laufen, um dann mit nur einem einzigen Schlag einen 30 Pfund schweren Hammer auszulösen. Er gibt vor, Besitzer mehrerer Seidenfabriken zu sein. Mit dem Uhrwerk sollen angeblich Tausende von Seidenfäden mit nur einem Schlag zerreißen. Unter einem ähnlich abenteuerlichen Vorwand gelingt es ihm in einer Kölner Sprengstofffabrik an besonders sprengstarkes Dynamit für seinen teuflischen Plan zu kommen.

Aus diesem Uhrwerk und 13 Zentnern Dynamit konstruiert der skrupellose Thomas seine Höllenmaschine in einem doppelwandigen Fass. Bereits im Sommer 1875 will er mit dieser Bombe den Dampfer „Rhein“ des Norddeutschen Lloyd (NDL) versenken. Der Plan jedoch misslingt – die Mechanik löst nicht aus. Jetzt – in Bremerhaven an Bord der „Mosel“ - will Thomas auf Nummer sicher gehen. Er will den Zeitzünder selbst aktivieren und dann im englischen Southampton das Schiff verlassen. Das Fass wird als Ladung Eisenteile im Wert von 15000 Talern deklariert – die Versicherungssumme, die er einstreichen will.

An diesem Morgen des 11. Dezember 1875 hebt der Kran der „Mosel“ das seilumschlungene Fass an der Kaje an. Doch genau in dem Moment, als die Zeitbombe am höchsten Punkt in der Luft schwebt, verrutscht plötzlich eines der Halterungsseil. Das Fass rutscht ab, fällt und prallt dynamit-gefüllt auf die Kaje. Das Inferno der „Thomas-Katastrophe“ bricht über die Stadt herein.

Eine gewaltige Explosion reißt einen vier Meter tiefen Krater in die Kaje. Alles im sichtbaren Umkreis wird von den Beinen gerissen und eine fast 200 Meter hohe Rauchsäule steigt in den kalten Himmel über der Weser. Überall auf der Mole, auf der eben noch pure Lebensfreude zu erleben war, herrscht nun plötzlich blankes Entsetzen, Leid und vielfacher Tod. New Yorks deutsche Vorstadt, wie das Bremerhaven jener Zeit genannt wird, schreibt traurige Geschichte. Das erste Zeitbombenattentat der Geschichte misslingt, weil die Bombe zu früh zündet. 83 Menschen sterben und weit mehr als 200 Opfer werden verletzt und verstümmelt.

An Bord der „Mosel“ umklammert den Attentäter Thomas die blanke Panik. Er weiß, dass er als Täter überführt wird und schießt sich mit einer Pistole in den Kopf, um sich für seine Tat nicht verantworten zu müssen. Passend zu den Fehlschlägen seiner heimtückischen Pläne gelingt auch dies nicht auf Anhieb - Er stirbt nicht sofort. Der vielfache Mörder lebt noch drei Tage und Nächte. Vor seinem Tod legt William King Thomas ein komplettes Geständnis seiner Taten ab. Sein Körper wird in einer Ecke (anderen Überlieferungen nach unter dem Hauptweg) des Wulsdorfer Friedhofes verscharrt. Hier befindet sich auch das Massengrab der Opfer der Thomas-Katastrophe. Ein Gedenkstein erinnert an jenen grauenvollen Samstagmorgen im Dezember 1875. Bevor William King Thomas vergraben wird, schneidet der Stadtmedikus Soldan seinen Kopf ab und konserviert ihn in Formalin. Der Schädel steht viele Jahre im Museum für Natur- und Völkerkunde in Bremerhaven. Später wird er an das Kriminalmuseum Bremen übergeben. 1944 kommt es dort zu einer Explosion und der Kopf wird bei Aufräumarbeiten „entsorgt“.

Noch heute erinnert an der Zufahrt zum Neuen Hafen eine schlichte Metalltafel an einem Laternenpfahl, an die Thomas-Katastrophe. Sie befindet sich zwischen Zoo am Meer und Schleusenzufahrt an der Rampe zum Willy-Brandt-Platz. Und tatsächlich gibt es noch einen ganz besonderen Zeitzeugen, der die Tragödie und die

Explosion überstanden hat: Die Schiffsglocke der Mosel. Sie steht in der Ausstellung des Deutschen Schifffahrtsmuseums in Bremerhaven.

 

Der Fall William King Thomas - eine Chronologie des Versagens:
Aneinandergereiht sind die Ereignisse um die Person Keith Alexander, wie Thomas wirklich hieß, schon eine bemerkenswerte Pannenkette. Am Anfang steht der missglückte Anschlag auf den NDL-Dampfer „Rhein“, auf dessen Atlantiküberfahrt die Bombe nicht explodierte. Die Thomas-Katastrophe selbst ist bei aller Tragik ebenfalls nur eine „Panne“ gewesen – schließlich sollte die „Mosel“ erst mitten auf dem Atlantik versenkt werden. Selbst die verpatzte Selbsttötung des Attentäters ist ein weiteres Glied in dieser Kette. Trotz eines aufgesetzten Kopfschusses trifft Thomas sich nicht sofort tödlich. Er stirbt nur langsam - drei Tage und Nächte lang- und muss sich für seine Taten doch noch verantworten. Zu guter Letzt, fast 69 Jahre nach seinem Tod, wird sein abgetrennter Kopf versehentlich im Müll entsorgt – und damit endet die unglückselige Kette, in deren Verlauf fast 90 Menschen gestorben und mehr als 200 verletzt wurden.   Marco Butzkus


Quellennachweis:
http://www.mare.de/index.php?article_id=1138
http://www.wikipedia.org
Bilder: Stadtarchiv Bremerhaven